Geschichte des FEG
Autor: Dr. Abelein (ehemaliger Lehrer)
(1.) 1796 - 1832: Eine Realschule entsteht
(1.1.) Die Gründung 1796: Dichtung und Wahrheit oder: Schiller war kein FEGler
(1.1.1.) Dichtung
Angenehm und nützlich ist es, sich im Glanz vornehmer Herkunft zu sonnen. Daher fehlte es in der Vergangenheit nicht an Versuchen, das Friedrich-Eugens-Gymnasium als Nachfahren der 1794 geschlossenen Hohen Karlsschule - Herzog Carl Eugens "Geschenk für Europa" (Otto Borst) - auszugeben und es so auch Friedrich Schiller, dem Karlsschüler, näherzurücken.
Freilich kam während der ersten 100 Jahre der Schulgeschichte noch niemand auf solche Gedanken. Die Erinnerung an die Karlsschule war ungetrübt, es wurde ihrer respektvoll gedacht (1), ohne daß je ihr Fortleben in Gestalt einer Realschule erwähnt wurde. Und weder Rektor Kieser in seiner "Geschichte der Realanstalt" von 1846 noch Rektor Frisch1865 in der ergänzten Neuausgabe dieser Schrift kamen auf die vornehme Herkunft ihrer Schule zu sprechen (2).
Erst gegen Ende des Jahrhunderts, im Jahr 1895, wurde in einem umfangreichen Zeitungsartikel ein - allgemeiner - Zusammenhang zwischen den Realschulen und der Hohen Karlsschule hergestellt: Deren Aufhebung sei "Ausgangspunkt zur Gründung von Realschulen in Württemberg" geworden (3) - tatsächlich aber, was der Verfasser übersah, existierte eine solche schon seit 1783 in Nürtingen (4). An der Friedrich-Eugens-Realschule war es dann 1918 zum hundertjährigen Jubiläum ihres Bestehens als selbständige Schule so weit: Rektor Hirsch führte ihre "Urgeschichte" auf die Hohe Karlsschule zurück (5). An diesen Gedanken knüpfte Dr.Leins beim nächsten Jubiläum - 1946, gefeiert 1947 - an, indem er von der Friedrich-Eugens-Oberschule sagte: "Hervorgegangen ist sie aus der Hohen Karlsschule" (6).
1971 - beim 175jährigen Jubiläum - war man zurückhaltender. Zwar wurde auf die edle Herkunft wieder angespielt (7), der Mann aber, der es am genauesten wissen mußte, Schulleiter Kessler, der unermüdliche und akribische Archivar der Schule, erkannte nur einen "inneren Zusammenhang" zwischen Karlsakademie und Realschule (8).
Und doch lebt die Legende weiter und wurde von unparteiischer Seite sogar so gedehnt, daß sie auch der Geschichte der Universität Stuttgart zu mehr Würde verhalf: Im Katalog zur großen Napoleon-Ausstellung von 1987 heißt es autoritativ: "Einflüsse (der Hohen Karlsschule) ... wirkten in Stuttgart ... weiter ..., vor allem wurde schon 1796 ... eine Realschule eröffnet, die sich später verselbständigte und aus der sich endlich die Technische Hochschule entwickelte" (9).
Und Friedrich Schiller?
Die Brücke von ihm zur Realschule spannte sich zunächst nicht zwischen beider Herkunft aus der Karlsakademie, sondern zum Wirken zweier bekannter Lehrer der Realanstalt im 19.Jahrhundert: J.G.Fischer, Dichter auch, prägte jahrelang als Festredner bei den Stuttgarter Schillerfesten die feierliche Atmosphäre (10), und Otto v.Güntter, ebenfalls an der Schule tätig, gründete das Marbacher Schiller-Nationalmuseum und wurde dessen Leiter (11).
Etwas anders gelagert war die Verbindung zwischen Schule und Schiller, die 1905 zu des Dichters 100.Todestag hergestellt wurde."Abordnungen" aus allen Klassen nahmen am "Huldigungszug" - längst galt Schiller als Fürst - zum Schiller-Denkmal teil (12), und ein ehemaliger Realschüler, nämlich Willy Widmann, Jahrgang 1871 und ein populärer Stuttgarter Wirt im Bohnenviertel, wurde in diesem Festzug als Schiller kostümiert durch Stuttgart getragen (13). Die Schüler der 8.Klasse erhielten zum Andenken an diesen Tag von einem Vater alle "eine Taschenuhr mit dem Relief von Schiller auf dem Deckel". Prof. Rayher aber sprach in der Turnhalle der Schule zum Thema "Schillers Jahre in der Karlsschule" (14).
Fast fünfzig Jahre ruhte dieses Motiv. Dann wurde es breit durchgeführt: 1953 gab die Theatergruppe der Schule anläßlich der Einweihung des Schulhauses in der Silberburgstraße Heinrich Laubes"Karlsschüler", und das Programm war so abgefaßt, daß der Leser in Schiller tatsächlich einen ehemaligen FEG-Schüler vermuten durfte: "Die Hohe Karlsschule ist die direkte Vorläuferin des Friedrich-Eugens-Gymnasiums und somit Schiller Vorgänger der heutigen 'Pennäler'" (15).
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(1.1.2.) Wahrheit
Die Wahrheit ist folgende: Bei Gelegenheit der Schließung der Hohen Karlsschule wurde das Stuttgarter Gymnasium umgestaltet, und im Zuge dieser Reform entstand in ihm eine realistische Abteilung, zwei Klassen umfassend.
Die Hohe Karlsschule, an der realistische Fächer gelehrt wurden, hatte 1782 den Status einer Universität erhalten, und es fehlte ihr gegenüber der Landesuniversität Tübingen, wo man bei ihrer Schließung hörbar aufatmete (16), nur die theologische Fakultät. Ihre Zöglinge traten in "Ministerial-, Hof- und Kriegsdienste" (17), und zwar in hohen Positionen.
Die Schließung der Karlsschule führte zu einer Überfüllung des Gymnasiums mit ehemaligen Karlsschülern aller Altersstufen. Sie alle hatten das Ziel, die Karlsschule ganz zu durchlaufen und nicht mit 14 Jahren, wie das dann für die Realschüler galt, eine Lehre zu beginnen. Denn schon 1771, mit dem beginnenden Ausbau der ehemaligen Waisenhausschule zur Akademie, hatte man "Zöglinge, die" auf ihr "einen handwerklichen Beruf ergriffen ... oder zu einer höheren Erziehung die Begabung nicht besaßen, aus der Schule entfernt" (18). Mit dem Zuzug der Karlsschüler, die also einen höheren Abschluß im Sinn hatten, wurde "der Andrang von Schülern in dem untern und mittlern Gymnasium (heute: Unter- und Mittelstufe) so groß, daß es den Lehrern unmöglich war, die nöthige Aufsicht zu führen" - das schrieb 1846 Realschulrektor Kieser, der den Anfängen noch nahestand (19).
Damit verschärfte sich das Problem, daß lange schon Schüler das Gymnasium besuchten, die dort gar nicht bis zur letzten Klasse bleiben wollten (20). In Stuttgart wie auch in anderen Städten hatten gegen Ende des 18.Jahrhunderts Gymnasien die Funktion von "Grund- und Hauptschulen für das städtische Bürgertum" übernommen (21). Mit der Eröffnung der realistischen Abteilung 1796 am Gymnasium wurde hier für Entlastung gesorgt. Das herzogliche Dekret vom 6.Juni 1796, die "Gründungsurkunde" des FEG, stellt diesen Zusammenhang eindeutig her, wenn in ihm von "der ursprünglichen Bestimmung des Gymnasiums zu einer gelehrten Anstalt" ausgegangen und gesagt wird, daß "künftig diejenigen Jünglinge, welche nicht zum Studium bestimmt sind und doch das Gymnasium zum Nachteil der Studierenden so häufig frequentieren, von den gelehrten Abteilungen getrennt werden" (22). Das Gymnasium schärfte - modern gesprochen - sein Profil.
Die unruhige, vielleicht wegen der Französischen Revolution geschlossene Karlsschule (23) sollte aber gerade nicht fortgeführt werden. Eine aus Anlaß ihrer Schließung eingesetzte Studienkommission hatte zwar die entstandenen "Lücken" in einem Gutachten aufgelistet (24) und zum Ersatz für die mit der Akademie verlorengegangenen Unterrichtszweige neue Bildungseinrichtungen vorgeschlagen, darunter auch eine "Realschule" - aber Herzog Ludwig Eugen befürchtete, daß so die ungeliebte Akademie "wieder aufleben würde" (25). Keine der von der Kommission bemerkten "Lücken" - z.B. höherer Militärunterricht oder Kameralwissenschaften - wurde in diesen Jahren geschlossen, und die durch dieses Gutachten allenfalls angeregte Gründung der realistischen Abteilung des Gymnasiums stellte wahrlich keinen Ersatz für die Hohe Karlsschule dar, auch nicht "teilweise" oder "in gewissem Sinne" (26).
Der Zusammenhang zwischen Realschule und Karlsakademie bleibt zunächst äußerlich, vergegenständlicht in einem "Zeichnungsapparat", der von der Karlsschule an die realistische Abteilung des Gymnasiums gelangte (27), und verkörpert in jenem Zeichenlehrer Sanboeuf, der erst dort und dann hier unterrichtete und wohl jenen Apparat bediente (28).
Kontinuitäten sind anderswo zu beobachten, nämlich in milder Form am oberen Gymnasium (heute: Oberstufe), wo zum Unwillen der eingesessenen Lehrerschaft fünf Professoren der Karlsschule tätig werden durften, indem sie in geringer Dosis den Schülern "Realien" verabreichten (29).
Die Einrichtung der Realschule aber wurde den skeptischen Herren vom Gymnasium dadurch schmackhaft gemacht, daß ihnen so "mehrere Subjecte entzogen würden, über deren Ungelenkigkeit, Faulheit und Ungezogenheit (sie) immer Klage führen ..." (30).
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(1.2.) Realismus gegen Humanismus: Denckwürdige Sachen fürs gemeine Leben oder blosse Worte?
Die Vorbehalte am Stuttgarter Gymnasium gegen den "Realismus" können aus der Geschichte der höheren Bildung in Württemberg leicht erklärt werden (31).
Hier herrschten bis zum Ende des 18.Jahrhunderts im Grunde noch die Verhältnisse, die Herzog Christoph im Zuge der Durchführung der Reformation 1559 mit seiner "Großen Kirchenordnung" geschaffen hatte. Über ungefähr 50 im Lande verteilten städtischen Lateinschulen erhoben sich 13 Klosterschulen sowie die Pädagogien in Tübingen und Stuttgart (hier als Vorgänger des Gymnasiums). Die Klosterschulen bereiteten ihre Absolventen auf das Studium der Theologie in Tübingen vor, die Pädagogien sollten auch den Weg in die anderen Fakultäten öffnen. Dieses System zielte als Teil einer Kirchenordnung mit dem Konsistorium an der Spitze seinem Ursprung nach darauf ab, die Reformation dauerhaft zu verankern und dafür Begabungsreserven aus dem ganzen Lande und aus allen Ständen zu erschließen.
Tatsächlich aber wurde die gelehrte Bildung zu einer Angelegenheit der "Ehrbarkeit", jenes Kreises städtischer Familien, die höhere Beamte und Geistliche hervorbrachten. Die entscheidende Hürde stellte auf diesem Bildungsweg das Landexamen dar, die berüchtigte Konkursprüfung, die den Zugang zu den Klosterschulen, später Seminarien (z.B. Maulbronn) regulierte. Wie sehr das Landexamen bzw. die Zulassung zu ihm zu einem sozialen Filter geworden war, zeigt folgende Bemerkung in einem Reskript von 1811: "... so wie die Söhne der Handwerker und Bauern überhaupt nicht studiren sollen, so kann bei denselben auch die Aufnahme in die zur Bildung evangelischer Geistlicher bestimmten Seminarien nicht stattfinden" (32).
Die gelehrte Bildung durch alte Sprachen, die im 16.Jahrhundert ihren reformatorischen Sinn gehabt hatte, diente nunmehr der Abschließung einer kirchlichen und nach Ausweitung der Staatstätigkeit auch bürokratischen Elite, die hohes Interesse daran hatte, den alt- und später neuhumanistischen Bildungsgang rein zu erhalten. Die Tendenz kann mühelos noch durch das ganze 19.Jahrhundert verfolgt werden: Bei der Debatte 1881 in der Abgeordnetenkammer des Landtags über die Finanzierung eines zweiten Gymnasiums in Stuttgart - 1885 öffnete es als Karlsgymnasium - wurde z.B. dessen Notwendigkeit nicht mit dem beachtlichen Wachstum Stuttgarts begründet, sondern mit der"Zentralisierung der Verwaltung" in der Residenz, die zu erhöhter "Frequenz" des Gymnasiums geführt habe, und daher sei "der Staat für die Ausbildung der Söhne dieser Beamten zu sorgen" verpflichtet (33).
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(1.2.1.) Alles immer bei dem Alten lassen!
Es hat vor 1796 in Württemberg Ansätze realistischer Bildung gegeben, aber keiner von ihnen konnte das althumanistische höhere Bildungswesen erschüttern.
Ein erster Versuch, das Stuttgarter Pädagogium solchen Bildungsinhalten zu öffnen, findet sich schon im 17.Jahrhundert und verlief im Sande. Dabei entstand neben dem Pädagogium, aber als ein Teil derselben Institution, das seither so genannte "Gymnasium", in dessen oberer Abteilung Französisch und Spanisch, Geschichte, Geographie, Mathematik, Physik, Mechanik, aber auch Reiten, Fechten, Tanzen, Ballspielen erlernt werden konnten (34). Das in Frankreich beheimatete Bildungsideal des Galant Homme scheint auf, das zugleich Ausbildungsprogramm der Funktionsträger im absolutistischen Staat war.
Diese Reform faßte aber in Stuttgart nicht dauerhaft Fuß, der bürgerliche althumanistische Bildungsweg blieb von diesem realistischen, auf den Adel zugeschnittenen getrennt. Für ihn gab es in Tübingen seit 1589 eine Ritterakademie (35), die in Anspruch genommen wurde, wenn adlige Erziehung nicht Hofmeistern anvertraut blieb.
Selbstverständlich gehört auch die Hohe Karlsschule in die Tradition solcher Akademien (36). Mit ihrer Gründung begab sich Herzog Karl Eugen gegen die Neigung des Konsistoriums, im Bildungswesen "alles immer bey dem Alten zu lassen" (37), auf einen Umweg, um eine auf Hof und Staat bezogene, realistisch gebildete Verwaltungselite heranzuziehen. Jedoch gelang es ihm nicht, die Existenz seiner Akademie in der Verfassung des Landes zu verankern: Sie blieb seine eigene Einrichtung neben dem der Kirche unterstehenden höheren Bildungswesen. Kam ein Nachfolger wie Herzog Ludwig Eugen, der die Karlsschule nicht weiterführen wollte, war es leicht, sie unter Beifall von Landschaft und Konsistorium zu schließen (38).
Übrigens wurde im aufgeklärten Milieu der Karlsschulprofessoren für realistische Bildungsreformen plädiert (39) - an dieser Stelle kann man den von M.Kessler konstatierten "inneren Zusammenhang" zwischen Karlsschule und der Realschulgründung von 1796 finden, und in diesem ganz allgemeinen Sinne geht auch der Zeitungsartikel nicht ganz fehl, der das württembergische Realschulwesen auf die Karlsschule zurückführt (s.o.).
Der realistischen Bildung redeten lange vor den Karlsschulprofessoren schon württembergische Pietisten in der Nachfolge Johann Valentin Andreaes (1586 - 1634) das Wort, aber nicht weil sie auf Nutzanwendung drängten, sondern weil sie Gott nicht allein in der Bibel, sondern auch in der Schöpfung suchten. Es fehlte dem württembergischen Pietismus der calvinistische Einschlag, der Arbeit und Nützlichkeit im Sinne innerweltlicher Askese (M.Weber) zur Heilsversicherung benötigte. Die orthodox lutherische, auf die Schrift hin orientierte Vorstellung des Stuttgarter Konsistoriums von theologischer und gelehrter Bildung war durch diese Spielart des Pietismus nicht gefährdet (40).
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(1.2.2.) Ein längst gefühltes großes Bedürfniß
Daß erste Realschulen in Württemberg erst gegen Ende des 18.Jahrhunderts entstanden - gut 50 Jahre nach der Eröffnung der"ökonomisch-mathematischen Anstalt" des J.J.Hecker in Berlin, der ersten dauerhaften Realschule im Reich, die Folgegründungen nach sich zog (41) -, lag jedoch nicht nur an dem Beharrungsvermögen des württembergischen Konsistoriums und des Althumanismus, sondern mehr noch an der verhaltenen wirtschaftlichen Entwicklung des Landes. Im Gegensatz zum merkantilistischen, damit moderneren Preußen und dessen praktisch orientiertem Protestantismus - der Realschulgründer Hecker war ein Pietist dieses norddeutschen Typs (42) - herrschte in Württemberg noch das traditionalistische, auf Bedarfsdeckung hin orientierte "handwerksmäßige Wirtschaftssystem" (Sombart): "Handel und besonders Kunstfleiß blühen in Wirtemberg wenig ... Der Verbrauch der einheimischen Produkte schränkt sich meistens nur auf Erfordernisse der Notdurft ein, ..." (43) - so schrieb 1795 aus "Wirtemberg" ein ehemaliger Schüler der Heckerschen Realanstalt, nämlich der prominente Berliner Aufklärer Friedrich Nicolai.
Diese württembergischen Handwerker brauchten keine Realschulen, sondern kamen mit Elementarkenntnissen im Schreiben und Rechnen aus. Die Ausbildung des Nachwuchses vollzog sich in der Lehre; das didaktische Prinzip war die Nachahmung; die Regeln, nach denen gearbeitet wurde, standen fest. Eine theoretische, rationale, rechenhafte, auf Optimierung des Arbeitsprozesses angelegte Analyse war dieser Welt fremd.
Wenn dann doch in Stuttgart der Besuch des Gymnasiums zunahm und eine Realschule hier früh gegründet wurde, beweist dies, daß sich am ehesten in der Residenzstadt in der mittleren Bürgerschicht Interesse an schulischer Bildung zu regen begann, die über Elementarkenntnisse und den Katechismus - den zentralen Lerninhalt an den "deutschen" Schulen ( = Volksschulen) - hinausreichte. Daß tatsächlich, wie bei der Eröffnung der Realschule beabsichtigt, die "Mittelschicht" das neue Bildungsangebot wahrnahm, beweist eine Liste von 1819: Die Väter der Schüler, die damals zur Realschule angemeldet wurden, waren Kaufmann, Gastgeber, Buchbinder, Schönfärber, Hofstukkator, Hofgürtler, Hofhändler, Hafner, Bürstenbinder, Kammerdiener usw. - und es war nicht typisch, wie Weckherlin, der erste Rektor der Schule, glauben machen wollte, "daß neuerlich manche Honoratioren ihre Söhne für das bürgerliche Leben bestimmen", nämlich nach Ausweis dieser Liste lediglich in Gestalt eines einzigen "Hofrats" (44).
Mit der Erweiterung des Bildungsinteresses im "Mittelstand" hatte auch die Eröffnung einer Elementarklasse an der Realschule im Jahre 1817 zu tun. Weckherlin verwies in seinem Antrag auf Einrichtung dieser Klasse "für kleine Knaben besonders, aus dem Mittelstande" auf ein "längst gefühltes großes Bedürfniß" (45). Und als er nach der Trennung der Realschule vom Gymnasium ein zusätzliches "Lehrzimmer" beantragte, weil zu viele Schüler angemeldet worden waren, berief er sich wiederum auf das mittelständische Bildungsinteresse der Eltern, denen es "sehr schwer fallen" würde, "wenn sie die Lehranstalt, die ihnen für den künftigen Beruf ihrer Söhne am zweckmäßigsten scheint, nicht sollen wählen dürfen und können ..." (46).
Nimmt man all dies zusammen, so gilt für Stuttgart, daß in der Entstehungsphase der Realschule eine beachtliche Nachfrage nach höherer schulischer Bildung bestand, die sich in erhöhtem Zulauf zum Gymnasium, aber auch in zunehmendem Interesse an realistischer Bildung äußerte. Den Reformprozeß stieß die Schließung der Hohen Karlsschule an, indem sie zu einer Überfüllung des Gymnasiums führte. Die Reform des Gymnasiums verband sich mit dem erfolgreichen, sozial defensiven Versuch, den mittelständischen Realismus, wenn er schon nicht mehr ganz zu unterdrücken war, vom Gymnasium fernzuhalten. Diese Strategie kann am Gymnasium auch weiterhin beobachtet werden, so während des Trennungsprozesses von der Realschule nach 1818, aber auch 1867 bei der Entstehung des Realgymnasiums ( = Dillmann-Gymnasium) in der Aufgabe der - aus neuhumanistischem Blickwinkel nunmehr - bespöttelten"Barbarenklassen" (47), an denen kein Griechisch unterrichtet wurde. Sie bildeten den Grundstock des Realgymnasiums.
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(1.2.3.) 1818 - 1832: Innovation und Improvisation
Der zweite markante Punkt in der Geschichte der Stuttgarter Realschule ist nach ihrer Gründung 1796 ihre Trennung vom Gymnasium 1818. Dieses Ereignis ist zunächst als ihr eigentlicher Anfang gesehen worden: 1868 wurde das fünfzigjährige Jubiläum der Schule aufwendig begangen (48), und auch 1918 fand trotz Krieg im Rahmen des Schuljahrabschlusses eine kleine Hundertjahrfeier statt (49). Die Entstehungsphase der Schule endete 1832, als sie ein zweites Mal, und nun endgültig, selbständig wurde, nachdem sie drei Jahre lang Teil der"Vereinigten Kunst- Gewerbe- und Realschule" gewesen war.
Für den Zeitabschnitt 1818 - 1832 sind drei Überlegungen wichtig:
■ | 1. Die Verselbständigung der Schule 1818 gehört in den Kontext eines Ausbaus des Stuttgarter Schulwesens, der gekennzeichnet ist durch Differenzierung und Hierarchisierung. Die 1817 eröffnete Elementarschule als der Realschule und des Gymnasiums gemeinsamer Unterbau - ihr Besuch setzte Beherrschung von Lesen und Schreiben voraus (50) -, ordnete die Realschule den höheren schulischen Einrichtungen zu und hob sie von der noch "deutsche Schule" genannten Volksschule ab. "Deutsche Schulen" waren in der großen Kirchenordnung 1559 den lateinischen Schulen als ein zweiter Schultyp an die Seite gestellt worden. Aber die Aufwertung humanistischer Bildung in der Folgezeit (s.o.) hatte zu einer Hierarchie zwischen den beiden Schultypen geführt, in welcher die Realschule nun den mittleren Rang einnahm über der durch ihre pädagogische Ausrichtung (Philanthropismus) bemerkenswerten Stuttgarter Waisenhausschule, die im Lehrplan - mit Realien! - über die katechetische Volksschule hinausreichte und sich, obwohl für Waisen, von der "Industrieschule" (seit 1802) unterschied, in der sozial benachteiligte Kinder, darunter auch Waisen, als billige Arbeitskräfte ausgebildet und beschäftigt wurden. 1818 wurde auch das Katharinen - Stift eröffnet, um dem "weiblichen Geschlechte" das zu bieten, "was das Gymnasium der männlichen Jugend ist" (51). 1825 entstand aus dem Zusammenschluß einiger Privatschulen eine Mittelschule für Mädchen, in der Hierarchie der Schulen das Gegenstück zur Realschule. Bildung erhielt in diesen Jahren im Lande, wo die Schulpflicht um 1840 schon recht früh durchgesetzt war (52), einen höheren Stellenwert. Ein Gesamtkonzept hat es in Stuttgart allerdings nicht gegeben, sondern staatliche (z.B. die Realschule), städtische (die Elementarschule) und private Bestrebungen konkurrierten eher miteinander. |
■ | 2. Die Verselbständigung der Realschule 1818 ist das bescheidene Ergebnis von ersten Versuchen, in Stuttgart eine polytechnische Schule zu schaffen: ein Projekt der "Gründerjahre" nach dem Wiener Kongreß (1814/15) und langen Kriegsjahren (53). Das Vorbild eines Polytechnikums stand in Paris als ein Kind der Revolution. An der Ecole Polytechnique wurden erstmals die Naturwissenschaften zur Grundlage der Technik gemacht - an Stelle hergebrachter Regeln, denen mathematische und naturwissenschaftliche Kenntnisse nachträglich hinzugefügt wurden (54). Baden hatte in Karlsruhe seit 1815 eine solche Schule, die Fachkräfte für den praktischen Staatsdienst (z.B. Straßenbau, Wasserbau) ausbildete. Der dem Realismus aufgeschlossene württembergische König Wilhelm I. kannte die Ecole Polytechnique und hat den Plan einer vergleichbaren Schule in Stuttgart vielleicht sogar angeregt (55). Für eine "Höhere physikotechnische ... oder poly-technische Schule" trat auch die Oberstudien-Direction am Ministerium ein, welcher die bisherige Realschule "nicht hinreichend" erschien für "diejenigen jungen Leute, welche ohne sich einem eigentlichen gelehrten Universitätsstudium zu widmen, doch einen höheren Grad von Bildung und Brauchbarkeit für das praktische Leben" anstrebten (56). Der König wich zuletzt aber zurück und empfahl, am Gymnasium den naturwissenschaftlichen Unterricht zu erweitern. Als Grund wurde Geldmangel angeführt; vielleicht hat auch ein Polytechnikum nicht ins politische Klima der Restauration gepaßt (1817: Wartburgfest). So blieb das einzige Ergebnis die Verselbständigung der Realschule und ihre Erweiterung um eine vierte Klasse. Ihre Schülerzahl wuchs in den folgenden Jahren. Den vier Klassen von 1819 wurde ein Jahr später eine fünfte, 1821 eine sechste für Schüler von 14 bis 16 Jahren und 1824 sogar eine siebte hinzugefügt (57). Nachfrage war vorhanden. |
■ | 3. Die "Königliche Real- und Gewerbe-Schule" von 1829 bis 1832 ist das Resultat eines nach 1817 fünften Versuchs, eine polytechnische Schule zu gründen; dazwischen lagen 1822, 24 und 25 erfolglose Vorstöße (58). Von vorneherein blieb klar, daß sich Württemberg ein Polytechnikum "nach den in Wien und Prag bestehenden Mustern" wegen seiner Kleinräumigkeit und beschränkter Finanzen nicht leisten wollte (59). Am 23.März 1829 erklärte sich Wilhelm I. damit einverstanden, daß "die Grundlage" einer "künftigen Gewerb-Schule durch eine hiesige Real-Anstalt gebildet" werde (60). Als Grund dieses Sinneswandels sind Notwendigkeit und Bedürfnis auszumachen, das Königreich von der wirtschaftlichen Modernisierung anderer Länder nicht auszuschließen, vielmehr zur "Beförderung der vaterländischen Industrie" (61) beizutragen. So werde "ein sehr zu berücksichtigender Teil der württembergischen Jugend seine Bildung fortan nicht mehr in der Fremde ... zu suchen haben" (62). Die neue Schule sollte demnach eine zentrale Einrichtung für das ganze Land sein. Denn die "Gerechtigkeit" und "Politik" müßten den Besuch einer solchen Stuttgarter Schule "auch dem Landbewohner und dessen Söhnen" ermöglichen "ohne den für die meisten unerschwinglichen Aufwand eines achtjährigen Aufenthalts in der Residenzstadt" (63). Daher wurden den bestehenden sechs Realschulklassen lediglich die veränderte siebte und eine neue achte als "Kunst- und Gewerbeschule" aufgesetzt. Das Publikum aus der Provinz mußte nach Absolvierung einer dortigen Realklasse in die siebte Stuttgarter Klasse eintreten können. Und doch wurde die Stuttgarter Realschule als staatliche Gründung, wegen ihres Standorts in der Residenz und nun ihrer Anbindung an die Gewerbeschule zum Modell für das ganze Land. In dieselbe Richtung hatte schon ihr zeitlicher Vorsprung als erster selbständiger realistischer Anstalt im Lande gewirkt. Noch im Jahr 1900 wurde in der Stundentafel "für die zehnklassigen Realanstalten" der "an der Friedrich-Eugens-Realschule" mittlerweile "auf Grund eingetretener Änderungen" erreichte Stand eigens verzeichnet (64). Daß sie die "erste" im Lande sei, wurde im 19. Jahrhundert stehende Wendung. Die Zahl der Anmeldungen gab der in der Presse hochgelobten Konzeption der neuen Schule (65) recht. Am 9.Nov. 1829 meldete Weckherlin, der Vorstand auch dieser erweiterten Schule, 331 Schüler (66). Es tauchten jetzt auch Söhne aus Familien der Ehrbarkeit auf, z.B. Nopper, Ostertag, Autenrieth, dazu Duvernoy, Elben, Feuerlein, Gutbrod, Zumsteeg (67). Dennoch war dem "Zwitter" (68) nur ein kurzes Leben beschieden. Dabei war nicht die mangelnde Verzahnung des Bildungsgangs zwischen den ersten sechs und den beiden oberen Klassen das Problem, sondern die Mischung von realistischer Allgemeinbildung, Fachschulbildung und höherer technischer Bildung (auch in der Kunst, hier besonders der Architektur). Der "landwirtschaftliche und Handelsverein", neben Weckherlin in dem für die Schule maßgebenden "Schulrat" gut vertreten (69), drängte auf berufsbezogene Fachbildung (70). Weckherlin wollte realistische Allgemeinbildung für vorhandene Berufe im 'Mittelstand', zu denen er Berg-, Forstleute, Militärs, Schreiber, Landwirte, Gastwirte, Händler, Konditoren, niedere Chirurgen, Lehrer an deutschen Schulen, Geometer, Musiker, Schriftsetzer rechnete (71). Mit Blick auf diese Begrenztheit und auf seine unermüdliche Produktion von Lehrplänen hat O. Borst in seiner Geschichte der Universität Stuttgart für Weckherlin nur Spott übrig: Er gilt ihm als "fleißiger Schulmann", der die mögliche Modernität der Gewerbeschule nicht sah oder nicht hat "sehen wollen" (72). Karl M. Heigelin hingegen, der erste Vorstand der Gewerbeschule 1832, war von der Notwendigkeit wissenschaftlicher "technischer Bildung" - sein eigener Ausdruck! (73) - zutiefst überzeugt. Dieser frühere Privatdozent an der Universität Tübingen und erfolgreiche Architekt hat im Ministerium offenbar geäußert, daß die (noch vereinigte) Gewerbeschule, also die Klassen 7 und 8, mit der Realschule so wenig zu tun habe wie die Universität Tübingen mit dem Tübinger Lyzeum (74). Das schnelle Ende der "Vereinigten Gewerbe- und Realschule" scheint vor allem sein Werk gewesen zu sein (75). Stuttgart hatte 1832 damit zwar kein Polytechnikum, aber eine Gewerbeschule und wieder eine sechsklassige Realschule. |
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(1.2.4.) Der Lehrplan: Die schwere Trennung vom Latein
"Realia", lesen wir in Zedlers Lexikon von 1741, "heissendenckwürdige und nützliche Sachen, die nicht in blossen Wortenbestehen" - wie die Altphilologie, die sich am Stuttgarter Gymnasium inder "Alleinherrschaft des Latein" (76) äußerte. Und das GrimmscheWörterbuch teilt mit, daß die erste Realschule - in Magdeburg 1706 -eröffnet wurde, um "der Schuljugend ... marter im lernen zuerleichtern, und ihr das schulgehen und lernen durch reellevorstellungen angenehmer, und sie zum gemeinen leben geschickter zumachen."
Wie geschah das an der Realanstalt?
Die Präzeptoren des Gymnasiums waren 1795 aufgefordert worden,Vorschläge auszuarbeiten (77). Was ein Jahr später nach einem PlanSchmidlins, des Rektors des Gymnasiums, in die Tat umgesetzt wurde,wich jedoch nicht bedeutend vom Lehrplan des Untergymnasiums ab: An derRealschule gab es kein Griechisch und von Klasse II an weniger Latein.Die am unteren Gymnasium im selben Zuge eingeführten oder nun stärkerberücksichtigten Realfächer - Rechnen, geometrisches Zeichnen,Naturgeschichte, Geographie, Geschichte, Schreiben, Zeichnen (78) -spielten in den Realklassen eine wichtigere Rolle. Doch ist nicht zusehen, an welcher Stelle ein wirklicher Gegenentwurf zur Lateinschuleerfolgte (79), in dem gar Traditionen der Karlsschule wiederaufgegriffen worden wären (80). Der Sinn des Entwurfs lag darin, dieRealschüler, die mit 14 Jahren eine Lehre beginnen würden, von Ballastzu befreien.Eine erste, allerdings nur marginale Lehrplankorrektur wurde 1818 ausAnlaß der Trennung der realistischen Abteilung vom Gymnasiumvorgenommen, eine zweite 1821, jeweils von Weckherlin. Folgende Fächer-und Stundentafel galt bis 1829:
Kl. I. a | Kl. I. b | Kl. II. | Kl. III. | Kl. IV. | Kl. V. | Kl. VI. | |
Lehrfächer | |||||||
Religion | 3 | 3 | 2 | 2 | 2 | 2 | 1 |
Deutsche Sprache | 6 | 6 | 6 | 4 | 3 | 2 | 2 |
Latein. Sprache | 10 | 10 | 6 | 6 | 6 | 6 | 6 |
Französ. Sprache | 5 | 6 | 6 | 6 | 6 | ||
Rechnen | 3 | 3 | 3 | 3 | 3 | 3 | 3 |
Geometrie | 2 | 2 | 2 | 3 | 3 | ||
Naturgeschichte | 1 | 2 | 3 | ||||
Naturlehre | 2 | 2 | |||||
Geographie | 1 | 1 | 2 | 2 | 2 | 2 | 2 |
Geschichte | 1 | 2 | 2 | 2 | |||
Schreiben | 6 | 6 | 4 | 4 | 3 | ||
Formenlehre | 3 | 2 | |||||
Zeichnen | 4 | 4 | 4 | 4 | 4 | ||
zusammen wöchentlich | 32 | 32 | 34 | 34 | 34 | 34 | 34 |
Es verblüfft der Umfang des Lateinunterrichts an der Realschule.
Das entsprach nicht dem Willen des Königs, von dem mehrereÄußerungen erhalten sind, die ihn als "Realisten" ausweisen. So erregteein Lehrplan für das Gymnasium von 1819 sein "Mißfallen", weil indiesem "den todten Sprachen ein ganz außer allem Verhältniß mit derübrigen wissenschaftlichen Bildung der Zöglinge stehendes Gewichtbeigelegt" wurde, während der "Erwerbung anderer, der künftigenBestimmung des größten Theiles der Zöglinge viel angemessenerer, jaunentbehrlicher Kenntnisse die nöthige Zeit geraubt" werde (81). DieLehrer des Gymnasiums verfaßten nun ein umfängliches Gutachten, dessenFazit lautete: "Die Zahl der philologischen Stunden kann unmöglichvermindert werden." Zugleich machten sich die Herren, um vom Gymnasiumabzulenken, zum Fürsprecher realistischer Bildung: "Nur eine höhereRealanstalt kann in Beziehung auf das obere Gymnasium den Knoten lösen"(82). Sie dachten dabei an Klassen für Schüler zwischen 14 und 18Jahren, gingen also über den Umfang der Realschule von 1818 hinaus undsetzten sich, was das Latein betrifft, im Verein mit demgleichgesinnten Studienrat durch. Aus ihrer Sicht mochte es einausreichendes Zugeständnis sein, wenn in der Realschule nur zwischensechs und zehn Wochenstunden Latein gelehrt wurden, während diegleichaltrigen Schüler am mittleren Gymnasium nach wie vor um diezwanzig Stunden Lateinunterricht empfingen (83). Erst mit der Eröffnungder Königlichen Real- und Gewerbeschule 1829 wurde der Lateinunterrichtspürbar zurückgenommen: Von nun an gab es in den beiden erstenRealklassen nur noch je sechs Stunden Latein, in den drei folgenden jevier und in der 6.Klasse nur noch eine pro Woche (84).
Obwohl stärker als die anderen Realklassen im Lande aus derLateinschule herausgelöst, hat hinsichtlich der Beibehaltung einesstarken Anteils an Latein die Stuttgarter Realschule eine eigeneEntwicklung genommen. Auf Kosten des Lateins finden sich auf dem Landein den Lehrplänen Fächer wie "Kräuterkunde" oder "ökonomische Zoologie"(hier ging es um Haustiere). Der Grund liegt darin, daß jene SchulenEinrichtungen der Gemeinden waren, wo praktisch orientierte Lehrpläneleichter zum Zuge kamen, während die staatliche Stuttgarter Schule ihreHerkunft aus dem Gymnasium nicht verleugnen konnte (und wollte) (85).Außerdem hatte sich der Typ der Realschule bis 1830 in einer allgemeinakzeptierten Form noch nicht herausgebildet. Klar war nur, daß sieeigentlich keine Lateinschule sein und das Niveau der "DeutschenSchulen" übertreffen sollte. Offen blieb, wie weit sie realistischeAllgemeinbildung zu vermitteln hatte und was das im einzelnen war.Strittig waren auch Art und Ausmaß unmittelbarer Berufsbezogenheit.
Einen Eindruck von dem, was in Stuttgart an realistischem Lehrstoff geboten wurde, gibt folgende Zusammenstellung Weckherlins:
In der pragmatisch wirkenden Benennung und Summierung einzelnerLehrgegenstände wird deutlich, daß bildungstheoretische Erwägungen, wiesie um die Jahrhundertwende neu und entschieden einsetzten undinsbesondere in Preußen (Humboldt, Süvern) Reform, Auf- und Ausbau desSchulwesens begründeten, hier keine Rolle spielten. StrukturierendePrinzipien fehlen diesem Plan fast ganz. Immerhin ist von einem"Stufengang" des Unterrichts die Rede. Das uns vertraute Prinzip derJahrgangsklassen (im Gegensatz zu Fachklassen) war noch nichtselbstverständlich und z.B. am Stuttgarter Gymnasium erst 1795eingeführt worden (86).
Die Aufgliederung der realistischen Fächer in Weckherlins Plan istuns an vielen Stellen fremd. Die Verselbständigung einzelnerDisziplinen auf moderner wissenschaftlicher Grundlage hat noch nichteingesetzt. Das läßt sich hier zeigen an "Naturlehre" und"Naturgeschichte und Technologie". Deren einheitlichen Hintergrundbildete um 1820 in Deutschland noch die spekulative Naturphilosophie.In der "Naturlehre", deren Gegenstände sich hier lesen wie antiquierteBezeichnungen moderner Inhalte der Fächer Physik und Chemie, kam esnicht darauf an, mit Experimenten und auf mathematischer Grundlageallgemeine Naturgesetzlichkeiten zu lehren, sondern Naturerscheinungenwurden demonstriert. Die Naturgeschichte hatte als Teil derNaturphilosophie die Lehre von den drei "Reichen" der Pflanzen, Tiereund Steine zum Inhalt (87). Sie erhält in diesem Lehrplan eineutilitaristische Wendung. Der Anwendungsgedanke macht sich auch in denFächern Geographie und Französisch bemerkbar ("Gebrauch imgesellschaftlichen Leben"). Das Fach Geschichte, im späteren19.Jahrhundert eine Leitwissenschaft, gehorcht in Weckherlins Plan demnicht spezifizierten Strukturprinzip der "Merkwürdigkeit" - in derdoppelten Bedeutung des Wortes - von "Männern, Begebenheiten,Erfindungen".
Bei allem Mangel an Strukturierung lassen sich doch an einzelnenStellen moderne realistische Züge erkennen. Da ist einmal dieOrientierung an Handel und Produktion, hier insbesondere die Erwähnungvon "Manufakturen" und "Fabriken". Ein Gegensatz zur Welt des altenHandwerks wird spürbar. Vor allem aber sind es die mit Wochenstundennicht schlecht ausgestatteten Fächer Formenlehre und Zeichnen, die indie Zukunft weisen: Konstruktiv - funktionales Denken beginnt Platz zugreifen, der Schritt von der Nachahmung des Meisters zur theoretischenFundierung der technischen Berufsausbildung ist nicht mehr fern (88).
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(1.2.5.) Collaboratoren, Präzeptoren, Professoren
Drei Lehrer wurden 1796 neu eingestellt, ein weiterer ein Jahrspäter. Es handelte sich um einen "Jur.Cand." Herrmann, der "nebenseinen praktischen Geschäften" - wohl auf dem Felde der Juristerei - inDeutsch und Französisch unterrichten sollte. Dann um einen"Collaborator" Werner für Latein, aber auch, "bis ein eigenerSchreibmeister aufgestellt wird", für Schreiben und Rechnen. Der"Mahler" Steinkopf sollte Zeichenunterricht erteilen (89). Undschließlich kam noch der Präzeptor G.F.Haug dazu, zuständighauptsächlich für Geographie (auch am Gymnasium), später bekanntgeworden als Herausgeber von Landkarten und Globen (90).
Aus heutiger Perspektive mag es befremden, daß ein Jurist ohneExamen als Lehrer angestellt wurde. Aber der Beruf des Lehrers anöffentlichen Schulen außerhalb der Lateinschulen war noch im Entstehenbegriffen. Französisch gab eben ein Franzose: von 1820 bis 1830 an derRealschule Jean N. Helvig; die Zeichenlehrer dieser Anfangszeiterteilten hauptsächlich Privatunterricht, und dieser war noch langeeine Alternative zur Schulstelle: z.B. betätigte sich Reallehrer Wannervon 1835 bis 40 als Hofmeister in Warschau (91). Das erste Seminar fürElementarlehrer wurde in Württemberg 1825 eröffnet, einReallehrerseminar elf Jahre später (92). Erst 1828 erging einestaatliche Prüfungsordnung für die Lehramtsbewerber an "lateinischenUnterrichtsanstalten und Realschulen" (93). Prüfungen, für die nochkein fester Ausbildungsgang vorgeschrieben war, fanden nun regelmäßignach dem Konkursverfahren statt. Bis dahin hatte eine Kommission desSchulträgers auf der Grundlage beigebrachter Zeugnisse entschieden,welcher Bewerber zum Zuge kam. Nur die Präzeptoren der Lateinschulenhatten in der Regel Seminar und Tübinger Stift durchlaufen und vor demPädagogarchen, dem Vorsteher des Stuttgarter Gymnasiums, und einemVertreter der Geistlichkeit eine Prüfung abgelegt (94). Aberqualifizierte Lehrkräfte für die realistischen Fächer zu finden blieblange ein Problem - es sei denn, ein Kandidat nahm einen Bildungsgangwie Christian Frisch, von 1833 an Lehrer an der Realschule und späterihr Rektor.
Dieser, 1807 geboren, hatte das Stuttgarter Gymnasium absolviertund dann - "dem Wunsche meines verstorbenen Vaters gemäß" - in TübingenTheologie studiert. Dann aber konnte er seine "Vorliebe für Mathematikund Naturwissenschaften nicht unterdrücken und war ein eifriger Zuhörerbei den Vorträgen des Professors Bohnenberger und andererausgezeichneter Männer". Sein naturwissenschaftlicher "Trieb" führteihn anschließend ein Jahr nach Erlangen. Frisch legte 1831 diestaatliche Prüfung für Lehramtsbewerber ab und erhielt, seines Zeichens"cand.theol", 1833 an der Stuttgarter Realschule eine zunächstprovisorische Anstellung, die 1836 durch eine feste, mit dem TitelProfessor verbundene ersetzt wurde. Wer sich in Mathematik undNaturwissenschaften auf tragfähiger akademischer Grundlagequalifizieren wollte, mußte wie Frisch den Weg eines Außenseiters gehen(95). Ein solcher war auch Nicolaus v.Thouret, der als Stadtplaner undArchitekt "Stuttgarts Gesicht geprägt" hat (Borst) und der von 1819 bis1829 an der Realschule Bauzeichnen lehrte - u.a. den Schüler Leins,einen zweiten hervorragenden Architekten Stuttgarts im 19.Jh., der z.B.die Liederhalle erbaut hat (96).
Bis 1829 blieb es üblich, daß Lehrer der Realschule auch amGymnasium unterrichteten und umgekehrt. Darum kann die RealschuleGustav Schwab einen der Ihren nennen: Er gab, obwohl Professor amObergymnasium 1820, Latein an der Realschule (97).
Nach Rang und Bezahlung waren die Lehrer an der Realschule denenam mittleren Gymnasium zunächst gleichgestellt (98), und Weckherlinhatte als Schulleiter seit 1818 dieselbe Stellung wie der Rektor desGymnasiums inne (99). Die Reallehrer aber mußten bei"gemeinschaftlichen öffentlichen Zusammenkünften" hinter den Lehrern ammittleren Gymnasium gehen (100).
Eine Klärung der Rangverhältnisse wurde durch die staatlichePrüfungsordnung von 1828 eingeleitet. Hier wurde unterschieden zwischenProfessoren an erster, Präzeptoren und Kollaboratoren an zweiter sowieReal- und Elementarlehrern an dritter Stelle (101).
Die Zuordnung der Reallehrer zum niederen Schulwesen beschriebzutreffend die pädagogische Wirklichkeit an den vierklassigenRealabteilungen in der Provinz, nicht aber die Verhältnisse an dersiebenklassigen Stuttgarter Realschule. Ein Erlaß legte 1830 fest, daßder Titel Reallehrer den an einer Realschule Unterrichtenden zukomme,der "Präzeptor" aber den Gelehrtenschulen vorbehalten sei. Dennochschmückten sich die Stuttgarter Reallehrer mit diesem Titel auchweiterhin: Er hatte einen besseren Klang, weil er auf den Bildungsgangüber Lateinschule und Stift verwies. Die Stuttgarter Reallehrer konntenauch auf die Herkunft ihrer Schule aus dem Gymnasium pochen. Verwischtwurde der Unterschied zwischen Reallehrern und Präzeptoren durch dieOrdnung der Dienstkleidung von 1841. Die einen wie die anderen trugen"einen Talar von schwarzem Krepp mit einem ein Zoll breiten Besatz amKragen und ein Barett aus leichtem Wollzeug, beides von violetterFarbe, ohne Quaste". Diese schöne Amtstracht wurde noch sehr langegetragen, an einigen Schulen "bei feierlichen Gelegenheiten" noch nachdem Ersten Weltkrieg (102).
Es ging den Reallehrern ums Prestige, aber sie versprachen sichvon einem höheren Rang oft auch materielle Vorteile. Ein Pechvogelallerdings war der "Mahler" Steinkopf. 1807 wollte er "Oberpräzeptor"werden, hätte dazu allerdings seinen Namenszug unter eine Bittschriftsetzen müssen, die Lehrer des Gymnasiums aufgesetzt hatten, denen dieerbetene Rangerhöhung zuteil wurde. War Steinkopf nachlässig gewesen,oder lehnte man ihn ab, weil er nur an der Realabteilung unterrichtete?Die Folge: Er erlangte nicht die Befreiung seines Sohnes von derMilitärkonskription, die mit dem "Oberpräzeptor" verknüpft war (103).
In der Bezahlung trennten sich die Wege zwischen Real- undGymnasiallehrern in Stuttgart mit der Entflechtung der beiden Schulen.Mehrfach kamen in den folgenden Jahrzehnten die Stuttgarter Reallehrerum Aufbesserung ihres Gehalts ein, wobei ein wichtiger Bezugspunktimmer das Einkommen der Lehrer am Gymnasium blieb (104). Klagen warenauch schon 1811 laut geworden - hier kämpften noch die Lehrer derRealabteilung gemeinsam mit denen vom mittleren und unteren Gymnasiumum den Anschluß an die Kollegen von der Oberstufe (105). Aus Gründender Bezahlung, aber auch wegen des höheren Ansehens, bemühten sicheinige Reallehrer, ans Gymnasium zu kommen, so z.B. Chr.Frisch (106).
Das Gehalt der Reallehrer war karg. Es wurde seit 1818 nicht mehrdirekt aus dem Schulgeld entnommen, sondern aus der Staatskasse, in diedas Schulgeld wanderte (107). Noch bis 1823 wurde es auch in derResidenzstadt nicht vollständig in Geld ausbezahlt. Rektor Weckherlinkam in diesem Jahr "um Umwandlung seiner Weinbesoldung" - gemessen nach"Eimern" - "in eine Geldbesoldung" ein und hatte Erfolg (108).
Es gab Nebeneinkünfte, vor allem durch Privatunterricht, den dieLehrer ihren eigenen Schülern erteilten. Diese heikle Praxis zog immerwieder die Aufmerksamkeit des Königlichen Studienrats auf sich, z.B.1829, 1843 und 1852. Im November 1829 mußte Rektor Weckherlin vonseinen Lehrern eine "schriftliche Erklärung" über ihre Privatstundenverlangen. Hintergrund waren "so manche Beschwerden von Eltern".
Nicht weniger als zehn Lehrer zogen alle Register, um ihrePrivatstunden in günstigem Licht erstrahlen zu lassen. Beschwerden vonEltern kannten sie nicht, vielmehr umgekehrt deren "Verlangen" nachdiesem Unterricht sowie der kostenlos gewährten Beaufsichtigung ihrerSprößlinge, wenn das "Schulprivat" z.B. die Mittagszeit überbrückte.Der Unterricht half "schwächeren Schülern"; "Begünstigung derPrivatschüler" kam nicht vor, das konnte allenfalls die zu verwerfende"Meinung einiger Eltern" sein, "deren Kinder nicht immer zu dengesittetsten und fleißigsten gehören"; Nachteile aus dem "großenAndrang" zur Realschule, die dem einzelnen entstehen mochten, wurdenausgeglichen; man bewahrte die Schüler vor der Unfähigkeit der"Hauslehrer" und deren unverschämten Geldforderungen - denn selbst warman billig, tat es für 30 Kreuzer die Stunde, ließ "unbemittelteSchüler" gratis teilnehmen.
Weckherlin teilte dem Studienrate mit, daß er künftig nur nochPrivatstunden von Lehrern für Schüler der eigenen Klassen zulassenwolle, auch nur auf "schriftliche Bitten der Eltern" und nur "in denöffentlichen Lehrzimmer" - offenbar wollte er besser kontrollieren. DerStudienrat aber drehte den Spieß um, erlaubte Privatunterricht nur nochin den Wohnungen der Lehrer und traf diese damit hart. Denn dieseWohnungen waren für ausufernden Gruppenunterricht zu klein.
1843 sprach der Studienrat den entscheidenden Punkt unverblümt an:"Jede directe oder indirecte Aufforderung zur Theilnahme anPrivatstunden der Lehrer ist diesen streng untersagt (109)".
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(2.) 1832 - 1875: Von der Realschule zur Realanstalt
In der Entwicklung der Stuttgarter Realschule kann der Zeitraumzwischen 1832 und 1875 als Einheit betrachtet werden: Aus derbescheidenen sechsklassigen Realschule, die ihre Schüler mit demvierzehnten Lebensjahr entließ, wurde bis 1875 die "Realanstalt" mitzehn Jahrgangsklassen. Sie wurde nun als "Höhere Schule" geführt (110),weshalb ihr auch die Bezeichnung "Anstalt" zustand (111), und sieerhielt in diesem Jahr ein neues Gebäude an der Ecke Hohe-/Langestraße.
Nach 1830 klärte sich, was realistische Bildung sein konnte undwollte. Dabei entstand der Typ der Oberrealschule, in den dieStuttgarter Schule hineinwuchs. Die Grundlinie der Entwicklung folgte -mit einiger Verzögerung - derjenigen in Preußen: Dort wurden 1832 dieEntlassungsprüfungen an Realschulen staatlich normiert und die darangeknüpften "Berechtigungen" festgelegt (Einjähriges; nichtakademischeLaufbahnen im Staatsdienst). Ein Teil der preußischen Realschulen stiegdann wie die Stuttgarter ins Höhere Schulwesen auf und erreichte 1859als "Realschule I.Ordnung" die Gleichstellung mit dem Gymnasium.Allerdings berechtigte der Abschluß einer solchen Schule noch nicht zumStudium an einer Universität. Das galt auch für Württemberg (112).
Für die Entwicklung der Stuttgarter Realschule zwischen 1832 und1875 sind vier Gesichtspunkte wichtig, die auch für die anderenwürttembergischen Realschulen von Belang sind: 1. Die Herausbildungeines besonderen realistischen Bildungsprofils gegenüber demNeuhumanismus (und der althumanistischen Tradition). 2. Die Abgrenzungvon der beruflichen Bildung. 3. Die Verflechtung des Aufstiegsbesonders der Stuttgarter Schule mit der Entwicklung des Polytechnikumsin Stuttgart. 4. Die Abgrenzung vom niederen und sich entwickelndenmittleren Schulwesen.
Hintergrund all dessen war die im Lande um 1830 verhalteneinsetzende Modernisierung von Wirtschaft und Wirtschaftspolitik aufhandwerklicher, klein- und mittelbetrieblicher Grundlage. Die 44realistischen Schulen, die in Württemberg bis 1840 entstanden, lagen inZentren verstärkter Gewerbetätigkeit, hauptsächlich entlang derNeckarlinie (113).
Der Landtag von 1833 bis 1838 trieb die Gewerbeförderung und auchdas realistische Schulwesen voran. Die Julirevolution von 1830 hatteden Interessen der mittelständischen Gewerbeschicht in derAbgeordnetenkammer zu größerem Gewicht verholfen (114), und außerhalbbildeten sich die ersten Wirtschaftsverbände (damals: "Vereine"), dieauf realistische Bildung drangen (115).
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(2.1.) Trennung von den Latein- und Gelehrtenschulen
Zunächst ging es in der Abgeordnetenkammer um die Ausweitungder Realschulbildung auf ganz Württemberg. Abgeordnete kritisierten diefinanzielle Privilegierung der Stuttgarter "Normalschule für alleähnlichen Schulen im Lande" (116) und stießen damit die Gründungweiterer Realschulen an. Die Verbindung zwischen Lateinschulen undRealklassen, die in Stuttgart schon 1818 aufgegeben worden war, fielnun im ganzen Lande, und ein besonderer realistischer Bildungswegentwickelte sich.
Das ging nicht ohne Widerspruch ab. Ein einflußreicherSchulpolitiker wie Friedr.Wilh. Klumpp wollte die realistische Bildungin der Gelehrtenschule entwickeln (117). Die Geistlichkeit aber sahihren Einfluß und die Tradition der von ihr bestimmten höheren Bildunggefährdet. In der Abgeordnetenkammer sprach 1845 der Prälat v.Mehringfür den (Neu-) "Humanismus", weil dieser "den Menschen" wolle, ihn "aussich heraus wachsen" lasse, während der "Realismus" nur "das Ding"meine, nur "Hand und Fuß in Bewegung" setze. Den "althergebrachten Ruhmtüchtiger humanistischer Studien" in Württemberg wolle man doch nicht"leichtsinnig" aufs Spiel setzen, "um einem ungewissen nachzujagen"(118). Friedrich Thiersch, der wohl radikalste Vertreter desNeuhumanismus (119), war ein Bekannter Rektor Weckherlins und schaltdiesen, weil er als Vorstand der Stuttgarter Realschule amtierte,obwohl er doch "seine Bildung den humanistischen Studien und seineReputation seinen früheren Arbeiten für sie verdanke" (120).
Dennoch hat der Gedanke realistischer Allgemeinbildung schon 1834Eingang gefunden in einen für die Zukunft grundlegendenMinisterialerlaß (121). In ihm steht zu lesen, "daß die Realschule einedem wachsenden Culturstande des Bürgers allgemeine Bildung" liefernsolle, nämlich als "Grundlage aller höheren bürgerlichen Berufe" -womit das Humboldtsche Ziel zweckfreier Bildung mit einerberufsständischen Einschränkung kombiniert wurde.
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(2.2.) Abgrenzung von der Berufsbildung
Mit der beruflichen Bildung kam es noch bis 1896 zuÜberschneidungen, und bis ins 20. Jahrhundert hinein unterrichtetenmanche Lehrer der Realschule zusätzlich auch an Fachschulen.
1845 erhielt die Realschule eine "obere Abtheilung", und zu dieserzählte eine "Gewerbeclasse", die sie von der in diesem Jahrreformierten Polytechnischen Schule übernahm. Deren Schüler mußten mit16 Jahren abgehen. Die berufsvorbereitenden Fächer an dieser Klassewaren z.B. Handelswissenschaften (Buchführung,"Handels-Correspondenz"), Freihandzeichnen (z.B. "Umrisse vonOrnamenten, Blumen und Fruchtstücken"), Linear- und gewerblichesZeichnen (z.B. "geometrische Construktionen") und auch "Kalligraphie",wie Schönschreiben vornehm genannt wurde, wenn es oberhalb derVolksschule stattfand. 1849 wurde die Gewerbeklasse geteilt, in eineAbteilung "für Kaufleute" und eine andere "für künftige Techniker,Militärs, Forstleute" (122).
1854 allerdings begann sich die berufsbezogene Bildung mit derEröffnung der "Gewerblichen Fortbildungsschule" aus der Realschule zulösen (123). Zwar behielt sie noch die "Gewerbeklasse" - bis 1861 (124)- , aber der Unterricht an dieser blieb von nun an dem realistischenLehrplan untergeordnet; insbesondere verschob sich der Schwerpunkt wegvon kaufmännischen Fächern zu den neueren Sprachen (125). Dieberufliche Bildung verselbständigte sich.
Gleichwohl kam es noch zweimal zu Überschneidungen, aber in beidenFällen erscheint die Berufsbildung als Manövriermasse gewitzterSchulleiter. Die Vorstände Frisch und Oelschläger zeigten sich 1868daran interessiert, zusätzlich zur um ein Jahr aufgestocktenGewerbeklasse eine Handelsklasse zu eröffnen, die von derPolytechnischen Schule zu übernehmen war. Der Einwand, daß sichrealistische Allgemeinbildung mit berufsorientierter Fachbildung nichtgut vereinbare, blieb dem Stuttgarter Gemeinderat vorbehalten. Nunwurde 1869 in Württemberg das Einjährigenprivileg eingeführt, dasgebunden war an die Qualifikation für eine 8.Klasse. Die Realanstaltwollte von Anfang an dabei sein, und dafür schien neben der Gewerbe-auch eine Handelsklasse nicht schlecht. Man inserierte, und es meldetesich - kein einziger Schüler. Aber die Gewerbeklasse reichte aus: DieRealanstalt bot das Einjährige seit 1869 an (126).
Ein letzter Ausflug ins berufliche Feld fand zwischen 1886 und1896 statt: nun doch mit einer "Handelsklasse", an der Fächer wie"Kaufmännische Buchführung" unterrichtet wurden. Jedoch sprachSchulvorstand Schumann 1896 plötzlich davon, daß "spezielleFachvorbildung für einen ganz bestimmten Beruf ... nicht Sache einerhöheren Lehranstalt" sei (127) - das hätte man 1886 auch schon wissenkönnen.
Eine Parallelerscheinung vermag den Sinneswandel zu erhellen: DieZahl der Realschüler war vom Spitzenwert 1321 im Jahr 1878 auf 1073sechs Jahre später zurückgegangen - vermutlich eine Folge der"Gründerkrise". Die Erholung von der "Krisis" (Rektor Schumann) setztemit 1153 Schülern im Jahr 1886, als die Handelsklasse eröffnet wurde,erkennbar ein. 1890 hatte die Realanstalt 1402 Schüler, war die wohlgrößte Schule im ganzen Reich und mußte 1896 geteilt werden. DieHandelsklasse hatte sich erübrigt, und ihre Schülerzahlen waren auchzurückgegangen (128).
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(2.3.) Im Sog des Polytechnikums
Die Gewerbeschule hatte den Ausbau der Realschule zunächstblockiert, indem die sechs Klassen Realschule 1832 "abgestoßen" wurden(129). Der Ministerialerlaß von 1834 (s.o.) bewirkte die Einrichtungvon Oberrealklassen - Altersgrenze für die Schüler: 16 Jahre - zuerst1837 in Heilbronn, Reutlingen, Tübingen, 1838 in Esslingen,Ludwigsburg, Rottweil, 1839 in Ravensburg und 1844 in Ulm.
Stuttgart folgte erst 1845. Unter dem Gesichtspunkt ihres Ausbausnach oben begann für die Schule nun "eine neue Epoche", wie Frisch 1868bemerkte (130). Denn 1845 erhielt sie von der Polytechnischen Schulenicht nur die ins Berufsleben führende Gewerbeklasse, sondern auchderen unterste, vorbereitende Klasse mit Mathematik als Schwerpunkt. Indem Verzicht auf den einfacheren Gewerbeunterricht, in der Erhöhung desEintrittsalters in die Polytechnische Schule auf jetzt mindestens 141/2Jahre, in der Tendenz zu größerer Selbständigkeit der Schüler erkenntOtto Borst den beginnenden Aufstieg der Polytechnischen Schule zur"Höheren Anstalt" (131) - mit Recht, wenn noch die jetzt einsetzendeMathematisierung der naturwissenschaftlichen Fächer beachtet wird,welche die spätere Akademisierung der technischen Bildung vorbereitete(132).
Von nun an nahm die Zahl der Lehrer zu, die sowohl an derRealschule als auch an der Polytechischen Schule unterrichteten (133);ein frühes Beispiel ist Kieser, Rektor der Realschule von 1835 bis1858, der auch an der Gewerbeschule Mathematik unterrichtete und dortzu jenen gehörte, welche die Mathematisierung des Unterrichtsvorantrieben (134). Noch zu Beginn des 20.Jhs. hatten Lehrer derRealanstalt Lehraufträge an der - jetzt - Technischen Hochschule (135).
Auch der weitere Ausbau der Realschule zur allgemeinbildendenHöheren Anstalt mit mathematisch-naturwissenschaftlichem Schwerpunkthatte seine Ursache in Veränderungen an der Polytechnischen Schule. Als1862 das Eintrittsalter der polytechnischen Schüler auf 16 Jahre erhöhtwurde, erhielt die Realschule deren untere Abteilung und hatte damiteine weitere zum Einjährigen führende Klasse (136). Und auch der Ausbauzur zehnklassigen "Vollanstalt" 1875 geht auf eine Reform desPolytechnikums zurück, das - nunmehr endgültig auf dem Weg zurHochschule - die "niedere Mathematik" der Realschule überließ (137).
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(2.4.) Abgrenzung nach unten: Die Entstehung der Bürgerschule
Die gewerbliche und kaufmännische Mittelschicht, für welche dieStuttgarter Realschule ursprünglich gedacht war und die ihr auch ihreSöhne anvertraute, differenzierte sich besonders nach derJahrhundertmitte in Angehörige "niederer" und "höherer" Gewerbe aus.Die Realanstalt verlor, indem sie zur Vorbereitungsschule für das zu"höheren" Berufen führende Polytechnikum wurde, ihre Eignung als Schulefür die Aspiranten auf einfache Gewerbe.
Eine 1850 bis 1852 tätige Kommission, der auch Rektor Kieser angehörte,sah es als Fehler an, daß in dem Ministerialerlaß von 1834 (s.o.) "dieRealschulen ... als Vorbereitung für höhere technische Studien"behandelt wurden (138) und empfahl eine Unterteilung der Realschulen,wobei diejenigen '2.Ordnung' eng mit den Volksschulen verbunden werdensollten. Die Stuttgarter Realschule paßte in diesen Rahmen schondeshalb nicht, weil sie in der Elementaranstalt von vorneherein eineeigene, von der Volksschule unterschiedene Vorbereitungsschule besaß.Anderswo im Lande entwickelte sich diese "niedere" Realschule: 1865 gabes schon 62 solcher Schulen gegenüber acht Oberrealschulen (139).
Nun wurde in Stuttgart 1863 eine "Bürgerschule" eröffnet. DieBezeichnung ist uns vertraut aus den Quellen zur Entstehung derrealistischen Abteilung des Stuttgarter Gymnasiums 1796, in denen voneiner "Real- oder Bürgerschule" die Rede ist. Die Begriffe bezeichnenim einen Fall den Unterrichtsgegenstand, im anderen die ständischeZuordnung des Realunterrichts. Das zweite hat auch 1863 eine Rollegespielt, denn die "Bürgerschule" sollte nicht auf "höhere Gewerbe,Handel und technische Studien" vorbereiten (140), sondern war "denKlassen der Bevölkerung" zugedacht, "deren Verhältnisse es ... nichtgestatten, ihre Knaben einer höheren Schule zu überweisen, die ihnenaber andererseits eine bessere Ausbildung geben möchten, als dies dieVolksschule naturgemäß zu bieten vermag" (141). Der Unterschied zurRealanstalt lag darin, daß an der Bürgerschule nur eine Fremdsprache,nämlich Französisch, gelehrt wurde und der Lehrplan im ganzen, beiBetonung der Realien und des Zeichnens, "einfacher als derjenige derRealschule" war (142).
Mit der Gründung dieser "Bürgerschule" war Ch.F.Ehrhart befaßt,bis 1862 Rektor der Realanstalt, und er hat wohl auch den Plan einersolchen Schule entwickelt (143). Im ersten fünfköpfigen Bürgerschulratsaß Chr.Frisch, der Nachfolger Ehrharts im Rektorat der Realanstalt.Deren Vorstände hatten die Aufsichtsfunktion noch lange inne (144). DieEntstehung der Bürgerschule erinnert an die der Realanstalt selbst, andie Trennung einer hinderlich gewordenen Schülergruppe vom Gymnasium1796 (s.o.).
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(2.5.) Die Herausbildung und Profilierung der realistischen Fächer
Profilierung und Aufstieg der Realanstalt spiegeln sich in derEntwicklung des Lehrplans wider. Folgende Tendenzen sind kennzeichnend:
1. Der Lateinunterricht wurde zurückgedrängt. 1845, als der Lehrplan anläßlich der Einrichtung der Oberrealklassen geändert wurde, war Latein nur noch in Klasse I für alle Schüler verpflichtend, in Klasse II nur noch in zwei von drei Abteilungen, in Klasse IV bis VI nur noch in einer Abteilung. In den beiden Oberrealklassen fehlte es, wie die Grafik zeigt, vollständig. 1858 verschwand Latein aus den Klassen IV bis VI ebenfalls, konnte allerdings noch in V und VI "in vier außerordentlichen Wochenstunden" erlernt werden (145). Im Lehrplan von 1876 wird das Fach nicht mehr genannt, die Realanstalt war zur lateinlosen Oberrealschule nach preußischem Muster geworden. Die Verbindung zu den Lateinschulen, die im Lehrplan von 1845 noch recht deutlich zu sehen war (146), riß ab. Das entsprach nicht nur den schon 1818 dargelegten Überzeugungen Wilhelms I. (s.o.), sondern auch den Tendenzen der Realschulkonferenz von 1850 (147). | |
2. Im gleichen Maße, wie Latein zurückging, drang die Mathematik vor. Nagel, ein einflußreicher Realschulmann aus Ulm, hatte schon 1840 geschrieben, daß "die Grundwissenschaft ... für den Gewerbestand die Mathematik" sei (148), nicht aber Latein. Und Chr. Frisch spricht 1854 zwar vom "hohen Werth" des Lateinischen, fügt aber hinzu, daß "die Mathematik mit ihrer strengen Logik" in der Realschule kein "schwächeres Geschlecht bilde, als die früheren lateinischen Schulen" (149). Hier geht es nicht um berufsständische Zuordnung der Mathematik, sondern um ihre mögliche Leistung für höhere Bildung. Frisch beansprucht das zugunsten des altsprachlichen Unterrichts regelmäßig angeführte formale Bildungsziel der Denkfähigkeit für sein Fach. Ein Blick auf den Lehrplan von 1876 zeigt, daß die mathematischen Fächer dominieren. In solchem Ausmaß ist das im Oberklassenunterricht von 1845 noch nicht der Fall. Diese Entwicklung gilt für alle württembergischen Oberrealschulen, der 1876 aufgestellte "Normallehrplan" war, wie die Bezeichnung sagt, Richtschnur für das ganze Land. Und doch ist es eine unmittelbare Folge der Anbindung der Stuttgarter Schule an die Entwicklung des Polytechnikums. Von daher vor allem ist zu erklären, daß die starke mathematische Ausrichtung dieses Lehrplans von dem der preußischen Oberrealschule abwich, dessen Grundmuster sich im Reich überall durchzusetzen begann. | |
3. 1845 spielten die naturwissenschaftlichen Fächer wie Naturgeschichte, Physik und Chemie im Vergleich zum Lehrplan von 1829 eine für eine Realschule, möchte man meinen, auffallend geringe Rolle: Sie wurden nur in der Gewerbeklasse unterrichtet, in der Vorbereitungsklasse auf die Polytechnische Schule fehlten sie ganz. Zweierlei ist dabei zu bedenken: Einmal hatte die Gewerbeschule 1832 die Fächer Physik und Chemie mitgenommen (und weiterentwickelt!). Zum anderen dämmerte ein Fach wie die Naturgeschichte seinem Ende entgegen. Hier waren Tiere und Pflanzen in klassifizierendem Unterricht unter dem Gesichtspunkt ihrer Nützlichkeit für den Menschen behandelt worden. Noch als die Schule 1885 einen botanischen Garten erhielt - Frisch war der hochherzige Stifter - wurde dies als pädagogische Pioniertat deshalb gerühmt, weil die "Kenntnis" von Heilkräutern und Giftpflanzen für Schüler "höchst wünschenswerth" sei (150). Der Unterricht bewegte sich aber, gemächlich der Entwicklung der Wissenschaft folgend, auf Naturerklärung zu. Als einführendes Fach, das methodische Exaktheit lehren sollte, war die 1876 im Lehrplan ausgewiesene "Naturbeschreibung" (Zoologie und Botanik) gedacht. Das Ziel der Naturerklärung galt jedoch unmittelbarer noch für Physik und Chemie, die noch als ein gemeinsames Fachgebiet unterrichtet wurden. Es ging nicht mehr wie zu Anfang des Jahrhunderts um Demonstration "merkwürdiger" Naturphänomene. Dabei fiel der Physik eine Hauptrolle zu: Sie war die klassische "Gesetzeswissenschaft" (151). Auch konnte sie am ehesten mathematisch behandelt werden. So profitierte sie vom nie in Frage gestellten Nimbus der Mathematik als eines Faches antiker geisteswissenschaftlicher Herkunft. Daher konnte für sie problemlos ein allgemeiner Bildungswert postuliert werden: das Eintrittsbillet aller modernen Schulfächer in den Fächerkanon des höheren Schulwesens. Fazit: Im Schicksal der naturwissenschaftlichen Fächer an der Stuttgarter Realanstalt zwischen 1829 und 1876 spiegelt sich der Zerfall naturphilosophisch inspirierter Naturgeschichte und der Aufstieg der exakten Naturwissenschaften an den entstehenden Technischen Hochschulen und an manchen Universitäten. | |
4. Einen Blick gilt es auf das Zeichnen zu werfen. Wir wissen schon, daß es bei der Ablösung handwerklicher Ausbildung eine Schlüsselrolle spielte und daher in den ersten Realschulen stets vertreten war. Durchgehend besetzt es, und auch noch 1876, im Lehrplan der Realanstalt eine starke Position. Klumpp nannte es 1853 in einem Visitationsbericht "das Hauptfach" (152). Es stellte auch jetzt noch keine Arabeske dar, hatte mit Kunst wenig zu tun (das kommt später), sondern wurde als eine wichtige Grundfertigkeit für höhere technische Bildung betrachtet. Der Zeichenunterricht an der Realanstalt galt als vorbildlich. Schülerarbeiten gab es auf den Landesgewerbeausstellungen in Stuttgart zu sehen, jedesmal hoch gelobt. Am 18.9. 1881 lesen wir: "... und endlich die erste Realanstalt des Lands, Stuttgart, mit ... ihren staunenswerthen Leistungen in allen Zweigen, namentlich auch in perspektivischen Zeichnungen und Schattierungen. Die letztgenannten Stuttgarter Leistungen bilden unzweifelhaft die schöne Blüthe der ganzen Sammlung ..." (153). Auf einer Ausstellung in Dresden präsentierte das Königreich Württemberg Arbeiten Stuttgarter Realschüler (154). | |
5. Als moderne Fremdsprachen haben Französisch und Englisch 1876 einen festen Platz im Lehrplan be- oder erhalten. Die französische Sprache ist von Anfang an gelehrt worden aus "Rücksicht auf ihre Nützlichkeit für das weitere Leben" (155), eine "Realie" also. Als Verkehrssprache ist auch Englisch zum Zuge gekommen. Der Bedarf war da: Nach der Jahrhundertmitte häufen sich die Anzeigen von Privatlehrern aller Art, "englischen Fräuleins" zumal, die das Fach unterrichten konnten (156). Im Aufstieg des Englischen spiegeln sich die wichtiger werdende Rolle der industrialisierten angelsächsischen Welt, die Industrialisierung Deutschlands und die zunehmende internationale wirtschaftliche Verflechtung. Für Oberrealschüler ist auch zu beachten, daß die technische Fachliteratur, die an der Polytechnischen Schule auf sie wartete, oft in Französisch oder Englisch abgefaßt war (157). Nun setzte aber eine dem Unterricht in diesen Sprachen zusätzlich günstige, ihrem Realiengehalt jedoch abträgliche Entwicklung ein. Als sich in den sechziger Jahren Romanistik und Anglistik an den Universitäten etabliert hatten und es nun ein höheres Lehramt für neuere Sprachen gab, entwickelten sich diese zu philologisch-textkritischen Fächern. Sie suchten die Dignität der Altphilologie und wollten dem Latein ebenbürtig werden. Infolgedessen wurden im Unterricht allerlei formale Fertigkeiten - wichtigstes Exerzierfeld: die Grammatik - wichtig, während die Konversationsfähigkeit als Unterrichtsziel eine geringe Rolle spielte (158). Eine Entwicklung wurde eingeleitet, die noch nach dem Zweiten Weltkrieg den Fremdsprachenunterricht geprägt hat. Die Lehrer der Realanstalt hatten daran Anteil: Mehrere von ihnen wurden über die Schule hinaus als Verfasser von Lehrbüchern mit grammatischen und sprachgeschichtlichen Zielsetzungen bekannt - z.B. Aßfahl und Haag (159). |
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(2.6.) Der Unterricht: Ein Visitator kommt
Gegen Mitte des Jahrhunderts hatte die Realanstalt nur nochLehrer mit staatlichem Examen, zunächst nach der Prüfungsordnung von1828. Bis 1864 wurden die Kandidaten in allen Fächern geprüft, dannführte man eine Professoratsprüfung für Oberrealschulen ein undunterschied nun zwischen einer sprachlich-historischen (Deutsch,Französisch, Englisch, Geschichte, Geographie) und einermathematisch-naturwissenschaftlichen Richtung (die in einzelne Gebieteaufgeteilte Mathematik, Naturlehre, Chemie, Naturgeschichte). Einbestimmter Bildungsgang war den Kandidaten bis 1836 noch nichtvorgeschrieben, wohl aber 1846 (Vorbildung in Real- oder Lateinschule,mindestens ein Jahr Gymnasium oder Oberrealschule, vier JahrePolytechnische Schule). Von 1864 an wurde zur Reallehrerprüfung nurzugelassen, wer nach der Aufnahmeprüfung einen mindestens zweijährigenKurs an der Polytechnischen Schule oder an der Universität hinter sichgebracht hatte. Professor konnte nur werden, wer die Reallehrerprüfungmit einer guten Note 'erstand', wie es damals hieß (160).
Wilhelm v.Oelschläger, 1816 in Stuttgart geboren, Vorstand derRealanstalt von 1881 bis 1885 und im Alter mit Personaladelausgezeichnet, ist ein frühes Beispiel für einen Lehrer, der seineKarriere zum Teil den neuen Regelungen verdankte, ohne sich schon ganzdem Staatsdienst zu verschreiben. Er besuchte in Stuttgart dieElementar- und Realschule (Eintritt 1822), war 1832 bis 1834 Schüler ander Gewerbeschule, um 1840 das Oberreallehrerexamen abzulegen (Zeugnis:"tüchtig und wohlbefähigt"). Zuvor hatte er einige Jahre als Lehrer aneinem "privaten Lehrinstitut" und als Hofmeister bei einem Adligen inder Nähe von Rottweil verbracht. 1844 gab er ein erstes kurzesGastspiel an der Stuttgarter Realschule und verschwand für die nächsten19 Jahre nach Reutlingen.
Zum frühest möglichen Termin legte er 1864 sein Professoratsexamenab und amtierte nun an der Stuttgarter Anstalt (161). Die endgültigeProfessionalisierung der Lehrertätigkeit, getrennt vom geistlichen Amt,hierarchisch gestuft, gebunden an normierte Ausbildungsgänge undPrüfungen, hat eingesetzt.
Den Nachweis didaktischer Fähigkeiten verlangte Württemberg von1846 an, nämlich in Lehrproben (162). Aber dahinter steckte, anders alsbei den Volksschullehrern, keine pädagogische Ausbildung. DasReallehrerseminar in Tübingen diente der Stoffvermittlung, und es bliebein Statusmerkmal des sich herausbildenden Oberlehrerstandes des19.Jahrhunderts, daß sich seine Vertreter als Gelehrte verstanden unddie Pädagogik weitgehend dem niederen Schulwesen überließen, eineTradition, die sich mühelos bis in die Gegenwart verfolgen läßt.
Wie Mitte des Jahrhunderts an der Realanstalt unterrichtet wurde,erfahren wir aus der Perspektive eines Visitationsberichts von 1853.Der Visitator Klumpp, Referent beim Studienrat, besuchte jede Klasse,machte sich ein Bild vom Wissensstand und dem Verhalten der Schüler undbeurteilte jeden Lehrer nach Rücksprache mit dem Schulleiter, damalsKieser. Begutachtet wurden Stoffbeherrschung, Auftreten und persönlicheEigenschaften des Lehrers. Zur Didaktik finden sich nicht vieleBemerkungen; diese gelten der Sprache des Lehrers, seinerVortragsweise, der Qualität seiner Erklärungen und Fragen.
Dem Lehrer Fein wird bescheinigt, daß er "bestimmt fragt, und wasmir gut auffiel, seine Fragen und Erklärungen immer praktisch ...hält". Frisch zeichnet sich - wir erwarten nichts anderes! - durch"klaren und präzisen Vortrag" aus. Wichtig, freilich nichtüberraschend: Ein anderes Unterrichtsverfahren als der durch einigeFragen unterbrochene Lehrervortrag, die "Lektion", wird in KlumppsBerichten nicht erwähnt. Wohl aber spielt die Schülermotivation eineRolle: Vom Lehrer Wanner heißt es anerkennend, "daß er besonders dieGabe besitze, die Kinder anzuregen". Und Klumpp achtet auch darauf, daßdie Lehrer die Schüler "zu selbstthätiger Verstandesentwicklungführen". Dem Prof. Seeger gelingt das deshalb nicht, weil er in derKlasse VI sich "im Realunterricht und in der deutschen Grammatik aufeinen falschen Standpunkt gestellt (hat), indem er sich in eine weitüber die Altersstufe gehende sogenannte wissenschaftliche Behandlung,in Abstraktionen und Begriffsbestimmungen verirrt". Prof. Ritters"Leistungen beschränken sich so ziemlich auf reine Dressur".
Klumpps Bericht zeigt, daß es bei Vorherrschen der einen Methodedes Lehrervortrags auch aus heutiger Sicht sachgerechte Maßstäbe gab,die an den Unterricht angelegt wurden. Entscheidendes Kriterium aberwar durchweg der von Klumpp registrierte Kenntnisstand der Schüler:"Der Stand der Klasse ist ziemlich schwach", bemerkt Klumpp über die 1amit ihren 32 Schülern, und in Religion stellt er fest: "... die Sprüchesind nicht sicher genug geübt." Die Hefte der 2b hingegen: "InOrdnung!" Und auf "Sitte" kam es an und auf "Fleiß". Insgesamt hatteKlumpp einen positiven Eindruck: Die Schule, die sich "lange ... mitabgelebten, halbbrauchbaren oder auch unbrauchbaren Lehrern behelfenmußte", hat sich gemacht (163).
Klumpps Visitationsbericht ist nicht die einzige Quelle zumUnterricht in der Realanstalt um die Jahrhundertmitte. In mancherHinsicht führt uns ein erhaltenes Schülerheft aus dem Jahr 1868 nochdichter ans Geschehen (164). Es enthält Mitteilungen an die Eltern, diemit Unterschrift zu quittieren waren. Diktiert wurden die Ergebnisseeines jeden "Proloco", wie Klassenarbeiten damals genannt wurden, weilihre Ergebnisse über die "Lokation" des Schülers entschieden: auf derZeugnisliste und im Klassenzimmer.
Des Schülers Paul Haag erste Eintragung im Heft lautet: "Heutewurde ich im französischen Proloco mit 10 1/2 Fehlern unter 33 Schülernder 13te." Paul steigerte sich im Laufe des Schuljahrs beträchtlich:Das 24. (!) Proloco in Französisch schloß er am 25.Mai 1869 mit einemhalben Fehler als Erster ab. Daß die Zahl der Leistungskontrollenhorrend war, sehen wir auch im Fach Rechnen. Paul legte bereits am14.Dezember 1868 das 20. "Lob" zum Unterschreiben vor. - Aber: EinMusterknabe war er nicht. Seine Noten für "Fleiß", "Sitten","Pünktlichkeit", ins Heft mit penetranter Regelmäßigkeit alle zwei bisdrei Wochen eingetragen, schwanken zwischen "rg" (recht gut, das wardie höchste Stufe), "gt" (gut), "zgt" (ziemlich gut) und "mittelmäßig",je nach Umständen. Am 14.1.69 teilt Paul mit: "Ich habe Arrest, wegenUnart." Schon einen Monat zuvor hatte er eine Stunde nachsitzen müssen"wegen Unfugs auf der Straße." Einen Hefteintrag war wert, daß er am20.Okt.1868 kein Fließblatt mit sich führte. Und folgendes wurde auchvermerkt, und zwar nicht per Diktat, sondern vom Lehrer eigenhändig:"Zur Sittsamkeit gehört eine reinlichere Kleidung; es geht in unseremHause nicht an, die Schuhe in der Woche bloß einmal zu reinigen."
Aus Pauls Heft geht auch hervor, daß 1869 schon Schulausflügestattfanden. Das war neu, wie einem Leserbrief an die "SchwäbischeKronik" (165) zu entnehmen ist. Der Einsender sprach den Lehrern der"hiesigen höheren Lehranstalten ... herzlichsten Dank" aus und rühmtedie Vorzüge der Exkursionen. Sie waren in seinen Augen geeignet, "dasBand des Zutrauens und der Liebe von Schülern zu ihren Lehrernfestzuknüpfen", da auf dem Ausflug "die Jugend ihren Lehrer nicht bloßim Ernste seines Berufs, sondern auch in der traulichen Ungezwungenheitfröhlicher und geselliger Stunden kennen lernt." Mit Genugtuungerfüllte ihn, daß Ausflüge oft "mit tüchtigen Fußmärschen" verbundenseien.
Und so wurde Paul ins Heft diktiert: "An unsere Eltern. Am 27.Mai wäreder Lehrer bereit, die von den Schülern erbetene Excursion zu machen.Da die Umgegend von Stuttgart ganz bekannt ist, so wäre ein Ausflug,etwa nach Kirchheim vorzuziehen. Abgang von Stuttgart 9 Uhr 35, Marschvon Plochingen nach Kirchheim; Mittagssuppe in Kirchheim; Besteigungder Teck, wenn möglich; Rückmarsch nach Plochingen und Heimfahrt.Natürlich wären von 7 bis 9 Uhr zwei Lectionen und es würde außer denMittagslectionen und dem Turnen nur eine Stunde ausfallen. Wer darfgehen?" - Zu marschieren waren nicht unter 27 Kilometer, wie Recherchenauf alten Karten ergeben. Legt man Maßstäbe der Gegenwart an, bleibtnur die eine Schlußfolgerung: Reallehrer Stellner tat allesErdenkliche, um die "erbetene" Exkursion zu verhindern.
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(2.7.) Minderbegabte und minderbegünstigte Schüler: Handwerkersöhne und junge Adlige
Die soziale Zusammensetzung der Schülerschaft der Realanstalthat sich gegenüber den Anfangsjahren in ihren unteren Klassen nichtverändert. Aus erhalten gebliebenen "Locationslisten" der Jahre 1843bis 1852 kann der "Stand" des Vaters ersehen werden (166). DieSchülerväter der Klasse 1a von 1851 waren: "Flaschner, Hoffischer,Instrumentenmacher, Schlosser, Holzmesser, Skribent, Hausmeister,Schriftsetzer, Bortenmacher, Buchhändler, Schmied, Postkondukteur,Chordirektor, Musiklehrer, Rechtskonsulent in Ravensburg, Vergolder,Literat, Hoffriseur, Handelsmann, Buchbinder, kgl. Kammerdiener,Mechaniker, Bierbrauer, Diener, Färber, Sattler, Zinngießer, Hofkoch,Metzger."
Diese kleine, aber repräsentative Stichprobe ergibt: Mit Abstanddominieren Handwerker und Gewerbetreibende. Aus dem "höheren Gewerbe"kommt kaum jemand - hier der "Mechaniker" (heute: ein Ingenieur) -, einpaar Vertreter freier Berufe sind da - z.B. der "Rechtsconsulent" -,und man wird daran erinnert, daß Stuttgart eine Residenz war:Hofbedienstete gibt es genug in der Liste.
In den Oberklassen sah es allerdings anders aus, wie eine erhalteneSchülerliste der Vorbereitungsklasse VIIa für die Polytechnische Schulevon 1853 ergibt. Die Väter haben folgende Berufe: Professor in Genf(Sohn: Oswald d'Aubigne), Particulier in Vevay (Sohn: Aloys Couvreu),Oberbaurath (zweimal), Stadtmusikus in Kirchheim, Hauptmann in Ulm,Bezirksamtmann in Scheer, Kameralverwalter in Sulz, Schmied inWinterlingen, Apotheker, Schneider, Brittischer Kapitän (Sohn: HenrySpeed), Major, Spitalverwalter, Pfarrer in Degerloch, Werkmeister,Rittmeister (Sohn: Georg v.Wöllwarth) (167).
Niedere Gewerbe und Handwerk, obwohl noch vorhanden, tretenzurück. In einigen Fällen haben die Väter kleinere Karrieren hintersich (Verwalter); nur der Degerlocher Pfarrer gehört zur lateinischgeprägten Bildungsschicht. Viele schicken ihr Söhne von außerhalb -auffällig: der Anteil der Schweiz - , um sie auf den Besuch derPolytechnischen Schule vorzubereiten. Wir haben es mit dem Publikumdieser Schule zu tun. Die Angaben zum Berufsziel, bei einigen dieserSchüler vorhanden, vervollständigen das Bild: fünf Schüler wollen"Mechaniker" werden, zwei Chemiker, drei zum Militär, einer willBergmann, einer Reallehrer werden.
Deshalb wohl hat Klumpp, unser Visitator, behauptet, die obereAbteilung der Stuttgarter Realanstalt habe sich zu einer "zweitenHonoratiorenschule" neben dem Gymnasium entwickelt (168). Klumpp behalfsich mit diesem Ausdruck, der eigentlich die humanistisch gebildeteEhrbarkeit bezeichnete, weil er damals noch keinen treffenderen zurVerfügung hatte. Denn was wir hier im Ansatz beobachten können, ist dieEntstehung einer technischen Funktionselite neben demBildungsbürgertum, die anfängt, sich aus sich selbst zu rekrutieren.
Klumpp bestätigt in seinem Visitationsbericht nicht nur densozialen Elitencharakter der "Vorbereitungsklasse", sondern lobt derenSchüler auch "nach Gaben, Fleiß und Kenntnissen". Sie würden "durchihre Aussicht auf die polytechnische Schule in Fleiß und Spannungerhalten" (während die parallel laufende "Gewerbeclasse" ein"Aufbewahrungsort" für Schüler sei, "bis sich ... passende Plätze ineiner Handlung etc. anbieten").
Noch eine weitere Erscheinung ist zu erklären: An der Realanstalttauchen jetzt einige Schüler mit Adelsprädikat auf, z.B. 1852 jenerv.Wöllwarth. Zwei Jahre später wird es v.Zeppelin sein (169), derErfinder des Luftschiffs. Weitere Namen von adligen Schülern, die sogarunterhalb der Vorbereitungsklasse anfingen: v.Dierstein, v.Forstner,v.Einsiedel (170).
Die Väter waren Offiziere (v.Wöllwarth: Rittmeister), die Söhnesollten ihnen darin folgen. Zeppelin z.B. ging von derVorbereitungsklasse aus an die Ludwigsburger Kriegsschule. ZurVorbereitung war Realunterricht geeignet. Daß Adlige hier keineBerührungsangst zeigten, nimmt nicht wunder: In die Tradition ihrerBildung gehörte nicht das humanistische Gymnasium der bürgerlichenEhrbarkeit, sondern die Ritterakademie, die Karlsschule etwa mit ihrerrealistischen Ausrichtung. Und sie begannen, worauf die Listenhinweisen und wie wir von Zeppelin wissen (171), als Seiteneinsteigermit vorangegangenem Privatunterricht.
Nimmt man die "vom Lande" Gekommenen hinzu, so zeigt sich, daß dieTrennlinie zwischen der Vorbereitungsklasse und den unteren sechsRealklassen deutlich gezogen war. Sichtbar ist dies auch auf der Ebeneder Lehrer: Die Klassen aus der Polytechnischen Schule brachten 1845viele ihrer Lehrer mit: die Mährlen, Hölder, Brutzer, Gugler, 1847Zimmermann (172); Frisch - natürlich - durfte als einer der wenigenProfessoren der Realschule sofort in Klasse VII unterrichten. DieSchule war, wie Klumpp schreibt, nicht "aus einem Guß" entstanden(173), sondern, wir haben es verfolgen können, eher ein Werk derImprovisation.
Gleichwohl wuchs sie erheblich. Die Klassen I bis VI wurden von1832 bis 1835 im Jahresdurchschnitt von 331 Schülern besucht, 1852 bis1855 waren es 755, für 1860 bis 1863 finden wir die Zahl 855. DieZahlen an der oberen Abteilung wuchsen von 90 im Jahr 1845 auf 129 imJahr 1863 (174).
Klumpp empfahl bereits 1853 eine Teilung der Schule, und er gabeine Erklärung für "die auffallende Vermehrung der Schülerzahl": Diese"kann natürlich lange nicht allein von der wachsenden Einwohnerzahl undebenso wenig von einer Abnahme des Gymnasiums herrühren ... sondernvorzugsweise von der richtigeren Einsicht der Gewerbtreibenden und demwachsenden Bedürniß der gewerblichen Bildung, mit welchem dieVerbesserung der Schule selbst, ihrer Leistungen ... Hand in Hand ging(175)".
Noch sieben Jahre zuvor hatte Rektor Kieser festgestellt, "daßViele nicht einsehen, daß ein über die Confirmationszeit verlängerterSchulunterricht dem längeren Verweilen in den niedern Diensten desLehrlings ... vorzuziehen" sei, aber auch Väter gescholten, die ihreweniger fähigen Söhne "erst einige Jahre durch die Elemente der todtenSprachen sich durchschleppen lassen" - also durchs Gymnasium -, um siesodann, "nachdem sie vielleicht geistesstumpf und alles Lernens müdegeworden, durch ein- bis zweijähriges Treiben des Französischen undelementar-mathematischer Studien" für das "Geschäftsleben"vorzubereiten (176). Ebenso klagte der Abgeordnete Goppel 1845 in derAbgeordnetenkammer, daß "viele Eltern auch ihre dem kaufmännischen undhöheren gewerblichen Beruf bestimmten Söhne dem Gymnasium und nicht denRealschulen anvertrauten" (177). Und 1868 erklärte der Chef desKriegsdepartements in der Abgeordnetenkammer, er habe "noch immer dieErfahrung gemacht, daß eine humanistische Vorbildung" - nämlich für dieKriegsschule - "bessere Erfolge aufweise als eine realistische" (178).Und auch Klumpp, so sehr er die Fortschritte der Realanstaltanerkannte, äußerte sich ähnlich: Diese erhalte "gegenüber denlateinischen Schulen die minderbegabten und zugleich die durch ihreäußeren Verhältnisse minderbegünstigten Schüler" (179). Es blieb dabei:Trotz erkennbarem Aufstieg galt die Realanstalt weiterhin alszweitklassige Bildungseinrichtung.
Wie bei Klumpp anklingt, hatte dies mit der gesellschaftlichenStellung der Eltern der Schüler zu tun. Bei Kieser finden sich dazuBemerkungen, wenn auch indirekter und moralisierender Art. Er bedauert,daß vielen Eltern "die nöthige Theilnahme an der Sorge für dieErziehung ihrer Kinder durch genaue Aufsicht und Wachsamkeit über ihrVerhalten außer der Schule" vermissen ließen und ebenso auf "Verkehrmit den Lehrern" verzichteten (180). Kieser legt offenbar die Maßstäbeeiner behüteten familialen Erziehung an, die sich im 19.Jahrhundert imgehobenen Bürgertum zu entwickeln begann, einer Schicht, der er selbstangehörte (181). Zu dieser zählten aber die Eltern unserer Realschülerin der Regel nicht.
Die Umstellung vom Fachlehrer- auf das Klassenlehrersystem, die ander Realanstalt 1846 erfolgte, gehört wohl in den Kontext dieserProbleme, denn - so die "Schwäbische Kronik" - diese Änderungermögliche ein besseres erzieherisches Zusammenwirken von Lehrern undEltern (182). Das neue System wurde aber auch jetzt erst möglich, weiles vorher noch nicht genügend Reallehrer gab, die gemäß denPrüfungsordnugen von 1828 und 1836 alle Fächer unterrichten konnten.
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(2.8.) Die Revolution 1848/49
(2.8.1.) Die Realschulen - ein "Werkzeug des destruktiven Liberalismus"
Lagen Auf- und Ausbau der Realschulen einerseits im Interessestaatlicher Gewerbeförderung, so wurde ihnen andererseits alsBrutstätte oppositioneller, wenn nicht gar revolutionärer Gesinnungmißtraut. Als "Werkzeug des destruktiven Liberalismus" charakterisierteein maßgebender preußischer Schulmann mit Schaudern die Realschule(183). Und keine Frage: Die Nähe zu dieser wichtigsten politischenRichtung des Bürgertums im 19.Jahrhundert bestand und ergab sich ausder sozialen Zusammensetzung der Realschülerschaft und ihrengewerblichen Berufszielen. Einem Mann wie Rektor Kieser galt es alsbare Selbstverständlichkeit, die "Bildung" an der StuttgarterRealanstalt auf "die geforderte höhere Geltung und Stellung" der"Gewerbestände" zu beziehen und auch als Voraussetzung "des dem Bürgergebotenen Rechts zum Mitsprechen und Mithandeln in öffentlichenAngelegenheiten" zu verstehen (184).
So überrascht es nicht, daß das württembergische "Märzministerium"schon einen Tag nach seiner Berufung (9.März) den Studienrataufforderte, sich über die "Vervollkommnung" des technischenUnterrichts, besonders an Realschulen, zu äußern. Der Studienratentschloß sich zu einer Verzögerungstaktik. Am 27. März antwortete er,daß "es bei der gegenwärtigen Bewegung und Aufregung schwerlichgelingen" würde, "umfassende organische Fragen mit der nötigen Ruhe undUmsicht zu erörtern". Ähnliches ließ die Behörde noch mehrmalsverlauten. Als dann im August 1850 der Studienrat die Einsetzung einerRealschulkommission vorschlug, die dann im Oktober die Arbeit aufnahm(185), hatte sich der revolutionäre Pulverdampf längst verzogen. DieKommission, der auch Kieser angehörte, kam zu dem Ergebnis, daß es fürÄnderungen "noch nicht an der Zeit" sei (186). Das entsprach dem Klimader Reaktion, die 1852 fest im Sattel saß; eine ihrer Methoden war,durch steuernde Verwaltungstätigkeit - hier eher: Untätigkeit -vorhandene Bedürfnisse zu kanalisieren und zu dämpfen.
Spuren der Revolution lassen sich auch bei Schülern des Gymnasiumsund dem jüngeren Publikum des realistischen Bildungswesens nachweisen.Am Gymnasium verlangten die Schüler in einer Eingabe eine Schulreform,und sie luden durch Zeitungsinserat ihre "Brüder in den höherenGymnasien, Lyceen, Konvikten und Seminarien des Landes" zu einerVersammlung auf dem Staufeneck ein. Lehrer und Vorstand des Gymnasiumsrieten - ebenfalls per Inserat - von dieser "Versammlung vierzehn- bissiebenzehnjähriger Knaben und Jünglinge ... ohne alle Aufsicht" ab(187).
Vor allem aber ergriff die Unruhe die polytechnischen Schüler,unter denen wir Absolventen der Realanstalt vermuten müssen. An denStuttgarter Brotkrawallen vom Mai 1847, Hungerunruhen, wie es sie indiesem Vorjahr der Revolution an vielen Orten gab, waren Polytechnikerso auffallend beteiligt, daß ihre Schule zunächst geschlossen wurde(188). Von dem Realschüler Paul Haag (s.o.) wissen wir, daß er "einsüddeutscher Demokrat echter Prägung" wurde (189).
Im August 1848 wurde "von jungen Kaufleuten, Polytechnikern undTurnern der Wunsch ausgesprochen, innerhalb der im Frühjahr gebildetenStuttgarter Bürgerwehr ein selbständiges Bataillon bilden zu dürfen"(190). Schon im März hatte sich dieser Personenkreis bewaffnen wollen(191).
Die Bürgerwehr hatte laut Gesetz Verfassung und Gesetze zuschützen sowie Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten. Einerseits war sie,wie anderswo auch, aus der Märzbewegung hervorgegangen, andererseitssollte sie neuen Unruhen einen Riegel vorschieben (192).
Die Forderung der jungen Kaufleute, Polytechniker und Turnerentsprach nicht dem Gesetz, und im Oktober 1848 - die Revolution warbereits rückläufig - verfügte das Ministerium des Innern die Aufteilungdes zunächst gebildeten selbständigen Jugendbanners auf die nachWohnbezirken eingeteilten sechs anderen Bataillone. Neben anderemsollte die Möglichkeit ausgeschlossen werden, daß sich dieses besondereBataillon gegen die anderen kehre (193).
Das Jahr 1848 brachte zahlreiche Lehrerversammlungen, lokal undregional. Einer der Stuttgarter Aufrufe zu einer solchen trägt dieUnterschrift Zimmermanns von der Oberrealschule (194). Ein Höhepunktauf nationaler Ebene war im September in Eisenach die Gründung eines"Allgemeinen deutschen Lehrervereins", der den Plan eines einheitlichennationalen Schulsystems entwickelte, vom "Kindergarten bis zurHochschule aufwärts" (195), mit Unterscheidung zwischen Realschulen,Gymnasien und Fachschulen auf der Basis einer gemeinsamen Grundschule.Das Schulgeld sollte fallen - eine Forderung, die in den Märzprogrammensehr verbreitet war. Den Lehrern kam es auch auf die weitere Trennungvon Staat und Kirche an. Auch darum sollten in den Volksschulen RealienEinzug halten. Und die Realschulbildung, so war öfter zu hören, sollteder gymnasialen gleichgestellt werden.
Die Beschaffenheit dieser letzten Forderung zeigt es: Mitbildungspolitischen Vorschlägen für die ganze Nation waren bereitsSonderinteressen der einzelnen Lehrergruppen verknüpft. Wer für den"Realismus" eintrat, schielte in der Regel gleichzeitig nach dem Statusder Gymnasiallehrer. Interesseneinheit der Lehrer gab es schon 1848 nurdann, wenn es um allen gemeinsame Belange ging (196).
Die Auffälligkeit der Stuttgarter Realschule lag auf Lehrerebene auf dem Feld der gesamten politischen Bewegung.
Wie bekannt, war der Mobilisierungsgrad besonders beiVolksschullehrern in der Revolution hoch. Es kommt nicht von ungefähr,daß nach der Revolution der preußische König in den Volksschullehrerndie Hauptschuldigen ausmachte: "All das Elend, das im verflossenenJahre ... hereingebrochen, ist Ihre, einzig Ihre Schuld", sagte er imFebruar 1849 zu Seminarlehrern (197). Auch in Württemberg rechnete dieRegierung mit den Volksschullehrern ab. In einem besonders üblenPamphlet wurden sie als "liederliche Subjekte", trunksüchtig usw.diffamiert (198).
Die Stuttgarter Realanstalt nimmt in der Mobilisierung derLehrerschaft auf dem Gebiete der Volksvertretung einen Spitzenplatzein: Von zehn württembergischen Paulskirchenabgeordneten aus denLehrberufen kamen allein zwei von der Stuttgarter Realanstalt, nämlichChr.Frisch und B.Fr.W.Zimmermann (199). Ein dritter Lehrer der Anstalt,J.G.Fischer, trat auf lokaler Stuttgarter Ebene in der Revolutionhervor.
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(2.8.2.) Die Lehrer Fischer, Frisch und Zimmermann: Bürgerliche Revolutionäre und Repräsentanten von Bürgerlichkeit.
Frisch und Zimmermann sind Altersgenossen: Beide wurden 1807 inStuttgart geboren, Frisch als Kind eines Oberfinanzrats mitPersonaladel und Zimmermann als Sohn eines Wagenlackierers, der alsHofbediensteter tätig war (200). Beide besuchten das Gymnasium,Zimmermann auf Betreiben eines Onkels. Frisch sollte Pfarrer werden undendete bei der Mathematik (s.o.), obwohl vom Stift kommend. Dorthinführte auch der Bildungsweg Zimmermanns: zuvor Gymnasium, Landexamen,Seminar Blaubeuren - dies alles, obwohl ihm dieser Bildungsweg seinerHerkunft nach hätte versperrt sein sollen (s.o.). Er gehörte zur"Blaubeurer Geniepromotion": Zu seinem Seminarjahrgang zähltenF.Th.Vischer, der Ästhetiker, Gustav Pfizer, der liberale Politiker,F.Chr.Baur, der textkritische Theologe, D.F.Strauß, der das Leben Jesuhistorisiert hat, und eben er selbst, Zimmermann, der Schriftstellerund Historiker. Die Zusammenstellung der Namen zeigt die Richtung:wissenschaftlich orientierte Intellektuelle, Oppositionelle liberalenund demokratischen Zuschnitts. Für die Frankfurter Nationalversammlungkandidierten sie alle außer Baur. In Stuttgart, wo Zimmermann nachseiner Relegation vom Tübinger Stift (wegen "beharrlicher Verachtungaller Ordnung des Instituts"), nach theologischer Dienstprüfung,Promotion zum Dr.phil. und kurzem Vikariat in Schweindorf bei Neresheimfür acht Jahre lebte, war er 1832 an der Gründung des "Hochwächters",des späteren "Beobachters", beteiligt, der ersten oppositionellenZeitung Württembergs.
Und Christian Frisch? Er war ein Turner. Die Turnplatzgründungenin Deutschland nach dem Vorbild von Jahns Berliner Hasenheide setzten1813 ein, im Jahr der Befreiungskriege; Stuttgart folgte 1817, im Jahrdes Wartburgfestes, recht früh. Die Gründung ging, wie in vielenanderen Städten auch (201), von Pädagogen aus, hier von Prof. Ramsauer,der ein privates "Lehrinstitut" leitete. Der Turnplatz schloß baldwieder - vielleicht wegen der Karlsbader Beschlüsse -, lebte aber 1822als Einrichtung für Schüler des Gymnasiums wieder auf. Es steht nichtin Zweifel, daß die Stuttgarter Turner ebenso wie die Sänger, die 1824unter maßgeblicher Beteiligung eines weiteren Lehrers des Gymnasiumsund der Realschule ihren "Liederkranz" gründeten (202), derbürgerlichen Einheits- und Freiheitsbewegung zuzuzählen sind, die sichim Vormärz in Turn- und Gesangsvereinen verdeckt sammelte.Lebenserinnerungen und Nekrologe liefern Belege in Hülle und Fülle(203). Nirgendwo fehlt der Verweis auf E.M.Arndt und sein "Was ist desDeutschen Vaterland?", die Hymne der frühen Nationalbewegung.
Christian Frisch turnte in den zwanziger Jahren mit seinenSchulkameraden: 1822 nahm der Fünfzehnjährige erstmals an einerzehntägigen "Turnfahrt" teil, wie die anderen "alle im zwilchenenTurnhabit" - die einheitliche Turnerkleidung verdeckte die sozialenUnterschiede. Auch in seiner Tübinger Zeit blieb Frisch dem Turnentreu, verkehrte dort auch im Umkreis der Stiftspromotion um Zimmermann,den er schon vom Gymnasium in Stuttgart her gekannt haben muß. UndFrisch war auch Burschenschaftler.
Er war kein unbeschriebenes Blatt, als er sich 1833 um eine Stellean der Stuttgarter Realschule bewarb. Ein vertraulicher Bericht lagvor, der für Frisch günstig ausfiel. Er habe "die Gesellschaft dersogenannten Feuerreiter allerdings besucht", jedoch nur, um von derenälteren Mitgliedern in Examensfragen beraten zu werden. Frisch habeanläßlich der Kandidatenprüfung 1830 versichert, "daß er in keinerverbotenen Verbindung gestanden sei" (204). Der Berichterstatterempfahl seine Anstellung an der Realschule.
Kaum in Stuttgart, turnte Frisch wieder, übernahm sogar dieLeitung des Stuttgarter Turnplatzes. Württemberg hatte sich zu einerDuldung der Turnerei entschlossen. Der Lehrer Frisch sollte offenbarpolitische Mäßigung garantieren. Wo hier die Grenzlinie verlief, istnicht klar zu erkennen. Immerhin spielte in Stuttgart als Vorturner -und wohl Konkurrent Frischs (205) - der polizeilich gesuchte Lelongeine führende Rolle. Die Turner begleiteten Lelong - Frisch muß dabeigewesen sein - auf seiner Flucht bis nach Pforzheim, nachdem einStuttgarter Richter auf ihn aufmerksam geworden war: Lelong hatte 1834am Frankfurter Wachensturm, einer Revolte gegen den Deutschen Bund,teilgenommen. Als 1845 das Turnen in Württemberg unter politischerNeutralisierung Schulfach wurde, war Frisch nicht glücklich. Ervermißte jetzt Freiwilligkeit und Selbstorganisation, jenedemokratische Substanz, welche für die frühen Turn- und Gesangsvereinecharakteristisch war.
Während Frisch turnte, schrieb Zimmermann seine "Geschichte desdeutschen Bauernkriegs", die 1843 erschien. Das aus den Quellengeschöpfte Werk ist von hohem Rang, das Neue ist die erstmalseingenommene Perspektive von unten. Die Wirkung war beachtlich:Friedrich Engels' Darstellung des Bauernkriegs ist in Disposition undMaterial ohne Zimmermann nicht zu denken; Gerhart Hauptmann ("FlorianGeyer") und Käthe Kollwitz haben es verwendet."Bauernkriegs-Zimmermann" - so sein Name 1848 in der Paulskirche - hatals früher Exponent freiheitlichen Denkens nach 1968 nicht nur an denUniversitäten eine Renaissance erlebt.
1847 bekam er eine Stelle für deutsche Sprache, Literatur undGeschichte an der Polytechnischen Schule und der Oberrealschule. Aufder stattlichen Bewerberliste erhielt er vom studienrätlichen Gutachter"unbedingt den Vorzug vor allen anderen". In "politischer Beziehung"seien seine Grundsätze "freimüthig", und es wurde "hohem Ermessen"anheimgestellt, ob in Zimmermanns "neuestem Benehmen" - er hatte alsPfarrer in einem Wahlkampf Partei für einen liberalen Kandidatenergriffen - "ein Hinderniß liege, ihm die fragliche Lehrstelle zuübertragen" (206). Zimmermann kam zum Zuge.
Als sie 1848 in die Paulskirche gewählt wurden, hatten beide,Frisch und Zimmermann, eine lange Geschichte oppositionellen Denkensund Verhaltens hinter sich, wobei Zimmermann als der Unabhängigere sichim Grenzbereich zwischen freier Intelligenz und Staats- undKirchendienst - seit 1840 amtierte er wieder als Pfarrer - bewegte,während Frisch, von seinem beruflichen Werdegang her gesehen, immerstaatsnah blieb.
Der dritte Exponent politisch oppositionellen Verhaltens an derRealanstalt war Johann Georg Fischer, 1816 in Groß-Süssen als Sohneines Zimmermanns geboren (207). Wie Zimmermann aus kleinenVerhältnissen kommend, hatte er im Gegensatz zu diesem nicht das Glück,in den gelehrten Bildungsweg zu gelangen. Doch reichte es 1831 zumEintritt ins Lehrerseminar in Esslingen. Er versah Lehrerstellen anvielen Orten und verfaßte erste Gedichte, die er Autoritäten derschwäbischen Dichterschule wie J.Kerner und L.Uhland zusandte. Nachdemer 1843 am Reallehrerseminar in Tübingen ein Examen abgelegt hatte,tauchte er 1845 an der Stuttgarter Elementaranstalt als Lehrer auf.
Politisches ist bei Fischer vor 1848 nicht zu finden, höchstensmetaphorisch verhüllt in seinen epigonalen Gedichten, in derenMittelpunkt Natur und Liebe standen. Aber 1848 zeigte sich Fischerplötzlich in vorderer politischer Linie. Er trat der StuttgarterBürgerwehr bei und stieg in ihr zum Leutnant auf. Er wurde "der Dichterder Bürgerwehr" (208) und trug anläßlich ihrer Fahnenweihe, einerimposanten Veranstaltung (209), ein zu diesem Anlaß verfaßtesvaterländisches Gedicht vor, das anschließend auf 5000 Flugblätternverbreitet wurde (210). Er redete politisch auf dem CannstatterVolksfest (211), und zur Totenfeier für Robert Blum, den in Wienhingerichteten Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung, truger wiederum ein eigenes Gedicht vor (212). Fischer gehörte alsSchriftführer dem "Volksverein" an, der sich im Juli 1848 aus dem"Vaterländischen Verein" gelöst hatte - Trennlinie: "Volksverein" fürdie Republik, "Vaterländischer Verein" für die konstitutionelleMonarchie. Im Mai trat er beim Schillerfest des Liederkranzes mitseinem Gedicht "Schillers Auferstehung" hervor, in dem sich die Zeilefindet: "Die Ketten sind gelöst, die Völker frei." In der Rede desfolgenden Jahres feierte er in Schiller erneut den Freiheitsdichter,und er kritisierte bei dieser Gelegenheit die Ablehnung der Kaiserkronedurch den preußischen König. Also gelte es, "den Kranz der Freiheitaufs Haupt des deutschen Volkes zu setzen" (213).
Fischer sollten seine Auftritte nicht gut bekommen. Schon am23.Nov. 1949 mußte Rektor Kieser Bericht erstatten: Dabei gab er nur zuProtokoll, was in den Zeitungen ohnehin über Fischer zu lesen war, undfügte hinzu, daß ihn "dieses Auftreten Fischers" dazu bestimmt habe,"ihn öfter in seiner Schule zu besuchen, als gewöhnlich" (214) - und erlobte seine Leistungen. Dann erklärte er Fischers politisches Auftretenzu einer Sache "seiner Eitelkeit". Kieser hielt schützend seine Handüber Fischer. Er teilte am 28.August 1850 dem Studienrat mit, daß sichFischer "für erhaltene Zurechtweisung und Ermahnungen empfänglich"zeige, und nannte ihn einen "bei den Kindern sowie deren Eltern"beliebten Lehrer (215). Und Kieser wirkte auch mit, als Klumpp inseinem Visitationsbericht 1853 notierte, daß Fischer nun seine"politischen Verwirrungen" überwunden habe (216). Aber es half allesnichts: Fischer erregte beim Ministerium 1854 "Mißfallen", als er umGenehmigung einer Sprachreise bat. Er wollte aus "Drang nachWeiterkommen" Französischlehrer werden, wurde nun aber wegen seinesVerhaltens im Jahr 1848 daran gehindert (217).
Doch 1862 wurde Fischer Professor für deutsche Sprache, Geschichte und Geographie an der Oberrealschule. Wie das?
Zwar war er bei den Schillerfesten weiterhin als Redneraufgetreten, bis 1853, und dann wieder 1855 bis 1857, aber es fiel ihmzu Schiller nun nichts Revolutionäres mehr ein. Das war nicht nur beiihm so: Die Schillerfeste rückten nach rechts. Die Hundertjahrfeier1859, in 440 deutschen Städten abgehalten, stellte bereits einHuldigungsfest dar, an dem auch die Monarchen teilnahmen und von demdie Unterschichten ausgeschlossen blieben (218). Fischer redete 1859 inder Reithalle, und der württembergische König war anwesend. Von da an"rechnete Fischer die entscheidende Wendung in seiner Lebensstellung"(219). Jetzt hatte auch mit dem Beginn der "Neuen Ära" in Preußen dieReaktionszeit ihr Ende gefunden, die Forderung nach deutscher Einheitwurde wieder laut und war geduldet.
Fischer wurde zu einem Repräsentanten der Einheitsbewegung inseinem Stuttgarter Umfeld. Der beruflich in diesen Jahren mehrfachAvancierte - der Professor an der Oberrealschule wurde auch Vorstandder Elementarschule und der Kaufmännischen Fortbildungsschule - tratweiterhin als Schiller- und sonstiger Festredner wie auch als Dichterhervor. Nach der Reichsgründung umgab ihn gar die Aura des nationalenPropheten, denn 1849 hatte er in einem Gedicht mit dem Titel: "Nureinen Mann aus Millionen!", wie man zu erkennen glaubte, Bismarckvorhergesagt. Die ersten Zeilen dieses Gedichts, die sich zweifellosauf die Verfahrenheit der revolutionären Situation Anfang 1849beziehen, lauten so: "Erheb dich wie aus einem Munde,/ Du Schrei derNot nach einem M a n n!/ Das deutsche Fahrzeug geht zugrunde,/ Es fängtschon tief zu sinken an ..." Und so schloß das Gedicht: "Komm,Einz'ger, wenn du schon geboren,/ Tritt auf, wir folgen deiner Spur,/Du letzter aller Diktatoren,/ Komm mit der letzten Diktatur!" (220).
Fischers Gedicht, sein populärstes wohl, leistete das, was dasnationale Bürgertum ersehnte: Es beglaubigte sein Verständnis desZusammenhangs zwischen 48er-Revolution und Reichsgründung, und dieswunderbarerweise aus der Perspektive von 1849. Die eher großdeutscheOrientierung der Stuttgarter Bürger von 1848/49 war vergessen.
Fischer war der Erzieher, der am auffälligsten die politischeKonformität an der Realanstalt des Kaiserreichs vorbereitete und nachaußen vorzeigte: ihre reichsdeutsch nationale und monarchistischeAusrichtung. Er gehörte dabei zu jenen Lehrern der Schule, die ihrAnsehen hauptsächlich aus Nebentätigkeiten bezogen. Zwei von FischersDramen wurden am Stuttgarter Hoftheater und auch in Weimar aufgeführt.Er verkehrte im Zirkel Notters, wo alle literarischen ZelebritätenWürttembergs aus- und eingingen, dazu auch Wilhelm Raabe während seinerStuttgarter Jahre. Fischer wurde von Raabe in der Erzählung "Dräumling"porträtiert.
Es kennzeichnet nicht nur Fischer, sondern auch die Verankerungder Realanstalt in der gehobenen Bürgerlichkeit Stuttgarts, wenn zurEnthüllung seines Denkmals - es steht am Fuß der Hasenbergsteige - 1900Otto v.Güntter, der Literaturwissenschaftler, vorher Lehrer an derRealanstalt, die Rede hielt und Förstler, Musiklehrer der Schule, dortden Chor des Liederkranzes dirigierte.
Und nun Frisch, der Turner. Er schlug eine ähnliche Richtung einwie Fischer, wählte aber einen anderen Weg. In der Nationalversammlung1848/49 gehörte er zur gemäßigten Linken ("Deutscher Hof"), imStuttgarter Rumpfparlament 1849 war er noch dabei (221).
Auch ihn traf die Reaktion, aber er war - anders als Fischer -Anfang der fünfziger Jahre schon als Professor etabliert. Auch über ihnhielt Kieser schützend seine Hand (222); als Frisch sich aber 1858 umKiesers Nachfolge bewarb, kam er nicht zum Zug. Die Stelle erhieltEhrhart, der 1854 zunächst die Nachfolge des entlassenen Zimmermann ander Polytechnischen Schule angetreten hatte. 1854 wurde er mit demHinweis empfohlen, daß er seine Fächer, nämlich deutsche Sprache,Geschichte und Geographie "in seiner künftigen Stellung mit demjenigensittlich religiösen Ernste behandeln würde, dessen es so sehr bedarf,um unserer in der neuesten Zeit so vielfach verführten Jugend dieallein richtige Grundanschauung ihres Lebensberufes zu geben und sie zuGehorsam und Pietät zurückzuführen" (223). Frisch wurde Vorstand derSchule 1862 - nach Ehrharts Tod, parallel mit Fischers Aufstieg.
Das Turnen hat Frisch nach der Revolution reduziert, jedenfallsist aus dieser Zeit von ihm keine Funktionärstätigkeit mehr bekannt.Zum 1843 gegründeten MTV hielt er zwar Kontakt (224), dieser seinersozialen Zusammensetzung nach eher kleinbürgerliche Verein zog ihnoffenbar aber nicht sehr an. Frischs Part spielte hier ein andererReallehrer, dessen politisches Gebaren gleichfalls in Verruf geratenwar: Blum, von dem Kieser 1853 erklärte, daß er, "was seine früherepolitische Richtung betrifft", keinen "Anstoß" mehr errege (225). AuchBlum wurde 1862 zum Professor ernannt - ein gutes Jahr für ehemaligeAchtundvierziger der Realanstalt. Blums Reden beim MTV, dessen Vorstander von 1860 bis 1864 war (226), zeichnen sich durch aggressivenationale Töne aus (227).
Frisch, nationalliberaler Reichstagsabgeordneter 1871 bis 1874,bewegte sich in den Jahren vor der Reichsgründung inbildungsbürgerlichen Kreisen: in der Museumsgesellschaft, imLiederkranz. Er ist als Herausgeber der wissenschaftlichen WerkeJohannes Keplers hervorgetreten und hat dafür von der UniversitätTübingen den Dr.h.c. verliehen bekommen. In dieser Zeit nationaler undbürgerlicher Identitätssuche spielte Kepler für Frisch ungefähr dieRolle wie Schiller für Fischer. Die Parallelen drängen sich auf: Als inWeil der Stadt 1870 das Kepler-Denkmal aufgestellt wurde - es war dieZeit bürgerlicher Denkmalsmanie (228) -, sprach die Presse davon, daß"eine alte Schuld" abgetragen wurde. Wer aber hielt bei der Enthüllungdes Denkmals die Festrede? Frisch. Und wer schrieb und sprach dasFestgedicht? Fischer (229).
Wie Fischer ist Frisch denselben Weg vom bürgerlichen Opponentenzum Repräsentanten reichsdeutscher Bürgerlichkeit gegangen. ImReichstag verhielt er sich ähnlich still wie schon in der Paulskirche:Nur zweimal ergriff er das Wort, nämlich als Fachmann, als es um einenVenusdurchgang ging und die Verlegung des Ostertermins. So wirdfreundlich von dem "biederen" Mann berichtet (230).
Es charakterisiert Frisch wie die damalige Realanstalt ganztreffend, wenn bei der Sedanfeier der Schule 1881 an den fünf Monatezuvor gestorbenen Frisch und dessen Wunsch erinnert wurde: derSedanstag möge bis "in alle Ewigkeit" gefeiert werden (231). DenNachruf am Grabe Frischs hielt ein weiterer Repräsentant Stuttgarternationaler und protestantischer Bürgerlichkeit: Karl Gerok (232).
Und Zimmermann? Die Rolle eines Fischer oder Frisch war ihm nichtauf den Leib geschrieben. Aber seine schriftstellerischeHinterlassenschaft stellt heute mehr dar als diejenige J.G.Fischers. Ergehört zu den bemerkenswerteren Vertretern des ersten deutschen Anlaufszu Demokratie und Republik. In Frankfurt/M. zählte er 1848/49 zuräußersten - republikanischen - Linken, ebenso im StuttgarterRumpfparlament und in den beiden Württemberger Landesversammlungen1850, in die er gewählt wurde. Im Geschichtsunterricht der Gegenwart anHöheren Schulen wird sein Name noch genannt: Auszüge aus seiner großenFrankfurter Rede vom 19.Januar 1849 sind in vielen Quellensammlungenzur Revolution enthalten und auch in Schulbüchern. Er kam während derRevolution zur Ablehnung des Konstitutionalismus und gewann dieÜberzeugung, daß die Revolution eine Nationalgarde (500 000 Mann,meinte er) gebraucht hätte.
Seine Entfernung aus dem Schuldienst erfolgte in Raten und wurdedürftig, nämlich mit allerlei Formalien, begründet. Er selbst beklagtsich, daß ihm der wahre Grund nicht gesagt worden sei. Aus denGutachten wegen einer Wiederaufnahme in den Pfarrdienst, die er 1853betrieb, geht hervor, daß man ihm sein eindeutiges Eintreten für dieVolkssouveränität anlastete. Ihm selbst wurde vorgehalten, daß er ander Oberrealschule zweimal zu spät zum Unterricht erschienen sei, weiler mit Polytechnikern politische Diskussionen geführt habe; er bestrittdies gar nicht, sagte aber, daß er sie so von Demonstrationenabgehalten habe. Auch sollte er zu gute Noten gegeben haben, was erwiderlegen konnte. Die endgültige Kündigung kam im Dezember 1850 -trotz glänzendem Zeugnis von Kieser, der sich schützend auch vor seinenradikalsten Lehrer stellte.
1854 kam Zimmermann wieder im Pfarrdienst unter, weit, weit in derProvinz, in einem Ort namens Leonbronn im Zabergäu, wo er sichbeachtlich oft dekanatlicher Besuche erfreute - jedesmal entstand einGutachten über seine Führung. Seine vielen Versuche, von dortwegzukommen, scheiterten zu Lebzeiten König Wilhelms I. (gest. 1864).Er hat noch viel publiziert und sich ebenfalls, wenngleich mitVorbehalten, wie Frisch und Fischer auf die Seite Bismarcks geschlagen.Er war auf seine Weise ein Realpolitiker, der sich Freiheit nur ineinem starken nationalstaatlichen Rahmen vorstellen konnte (233).
Zimmermann starb 1878 in Bad Mergentheim. Von allen Lehrern derRealanstalt, die politisch und literarisch hervorgetreten sind - unddas waren nicht wenige! -, hatte er das schärfste intellektuelle Profilund die größte Wirkung und war zugleich ein Mann von Charakter undStandfestigkeit.
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(2.9.) Gebäude und Gelasse
Am 18. Oktober 1875 bewegte sich ein langer Festzug, bestehendaus Schülern, Lehrern, Eltern sowie Behördenvertretern, von derKanzleistr.13 zur Ecke Hohe-/Langestr., wo sich heute das JugendhausWest befindet. Dort stand das neue Schulhaus, in das man nun einzog.
Die Klassen führten "Banner" mit sich, Choräle gliederten dieVeranstaltung ("Lobe den Herren"; "Das ist der Tag des Herrn"; "Herr,unser Gott, wir loben Dich"), Frisch sprach, natürlich. Beimabendlichen Festmahl in der Liederhalle redeten Kultminister v.Geßlerund der Oberbürgermeister Dr.Hack (234). Kein Zweifel: Die Realanstalthatte sich in der vorderen Reihe der Stuttgarter Bildungsstättenetabliert.
Auch an die Schüler wurde gedacht. J.G.Fischer wandte sich vor demneuen Gebäude an sie mit einem 116 Zeilen umfassenden Gedicht, das zweiTage später in voller Länge in der Zeitung stand (235). Der Dichterwählte den feierlichen Hexameter zum Metrum und folgendes Bibelwort zumMotto: "Siehe, ich habe mich heute gewaschen./ Sag, wie soll ich michwieder besudeln!" Ernst mahnte Fischer: "... glaubt sich der ein' oderand're/ Ungewaschen, er wasche sich selbst/ von jedem Gedanken an jedeBesudlung,/ Nicht nur an Wänden, an Tischen und Tafeln." Derlei trugder Dichter vor, und er meinte auch: "Gewaschen" sei den Schülern imneuen Haus, denn "wo solche Pforten,/ Solche Treppen, Gänge und Säle/.../ Den Jüngling empfangen,/ da ist ihm gewaschen."
"Pforten", "Treppen", "Gänge", "Säle" im neuen Haus: Bislang hattesich die Geschichte der Realanstalt in dürftiger Enge abgespielt.
Die realistische Abteilung des Gymnasiums von 1796 hauste in zweivoneinander durch eine Bretterwand getrennten Räumen imzweckentfremdeten Festsaal des Gebäudes (236). 1818 zog die Realschuleanläßlich der Trennung vom Gymnasium ins ehemalige Ramsauersche bzw.Oelschlägersche Schulgebäude (237). Schon am 31.Aug.1819 kam RektorWeckherlin um ein weiteres "Lehrzimmer" ein. Er hatte keinen Erfolg,denn der Vorstand des Gymnasiums - dort wäre vielleicht wieder Platzgewesen - weigerte sich hartnäckig, die gerade erst entferntenRealschüler wieder aufzunehmen (238).
Ein eigenes Haus erhielt die Realschule erst 1835 in derKanzleistraße, und dieses blieb ihr Hauptgebäude bis 1875. Aber auchseine Dimensionen reichten nicht aus. Daher wurde 1845 für die neuhinzugekommene Oberrealschule die im dritten Stock gelegeneRektorswohnung - selbstverständlich wohnte ein Schulleiter möglichst inseiner Schule! - in fünf Klassenzimmer umgewandelt. Und 1865 setzte mandem dreistöckigen Gebäude ein viertes Stockwerk auf. Nun vereinigte dasGebäude 23 Schulzimmer nebst Hausdienerwohnung unter seinem Dach.
Und doch unterhielt die Schule weiterhin Dependancen, in Gebäuden,die sich nicht durchweg für ihre Zwecke eigneten: Turmstr.7 war einSchulhaus, aber Breite Str.7 die ehemalige Stadtschreiberei undTorstr.8 das Haus eines Bäckermeisters (239). Dieses Gebäude fielAnfang der siebziger Jahre dem ärztlichen Landes-Schulinspektor auf -die Zeit der "Schulhygiene" war angebrochen. Er erwähnte "einenAbtritt, von welchem aus die Kinder den Urin an ihren Schuhen in dieSchule tragen mußten, während mit einem Lattenboden im Preise von 8 -10 fl. abzuhelfen wäre. Wer die Realschule in der Thorstraße besucht,kann die Lachen am Boden heute noch antreffen ..." (240).
Solchen Mißständen war im Gebäude von 1875 ein Riegelvorgeschoben. Die Presse bewunderte ganz besonders "das abgesonderteGebäude für die Schüleraborte, die, 25 an der Zahl, durchaus nach demTonnensystem (fosses mobiles) eingerichtet sind". Die Anlage galt als"Versuch im Großen", der im Falle des Gelingens "ein wesentlicherSchritt zu definitiver Lösung unserer (Stuttgarter)Latrinenangelegenheit" werden könne (241). Wer einen Blick auf dieentsprechenden Einrichtungen im gegenwärtigen Schulgebäude wirft,erkennt, daß hinsichtlich der "Schüleraborte" auch 1953 Beachtlichesgeleistet wurde.
Wie ein Schulgebäude auszusehen hatte und wie es eingerichtet seinmußte, war 1875 "nach dem Stande der ärztlichen und schulmännischenErfahrungen" (242) genau geregelt. Die betreffende Verfügung hieltnicht beim Gebäude als einer Äußerlichkeit inne, sondern schritt vonder Einrichtung der Schule über die Hygiene zur Regelung vonSchulstrafen, Hausaufgaben, Pausenzeiten etc. fort - einGesamtkunstwerk.
Die Wände der Klassenzimmer hatten "entweder von blaugrauer odergrünlich grauer Farbe" zu sein. Als ausschlaggebend für die Ausmaßeeines Schulraums galt der den einzelnen Schülern "zuzuweisendeLuftraum". Schüler unter 14 Jahren hatten mindestens 3 cbm Luftraum zurVerfügung, und älteren gewährte das Ministerium "je nach Alter" sogar"3,5 bis 5 cbm". Als der Stuttgarter Gemeinderat die vorgeseheneStockhöhe von 4,50 m auf 3,75 m reduzieren wollte - 4 m wurden es dann-, rechnete er vor, daß in den für 40 Schülern gedachten Zimmern fürjeden noch 5,7 cbm Luftraum bleiben würde. Es herrschte der Luxus derGründerjahre.
Die besondere Sorge des Kultministeriums galt den Subsellien. Zudiesem Thema erblühte in jenen Jahren eine üppige Literatur, in dersich technische, ärztliche und pädagogische Argumente mischten. Das inWürttemberg zugelassene Gestühl mußte so beschaffen sein, daß dieSchüler möglichst "gerade sitzen, so daß die Rückgratslinie sich insenkrechter Stellung befindet und der Rücken im Kreuz eingebogen ist"(243). Welches Modell für die Realanstalt von 1875 gewählt wurde, istnicht mehr zu klären.
In der "Schwäbischen Kronik" vom 19.Okt. 1875 wird das Gebäude alseine "Zierde der Stadt" bezeichnet und als "Zeugniß ... für die großeBereitwilligkeit unserer Bürgerschaft ..., der Jugendbildung Opfer zubringen". Ohne Gänge und Treppen enthielt das vierstöckige Gebäude, dasseine Umgebung überragte - der Platz wurde knapp im Bauboom derGründerzeit, man baute in die Höhe -, "77 einzelne Gelasse", je einen"Hörsaal" für Physik und Chemie und im zweiten Stock "einen geräumigenFestsaal" von 2300 m2, darin auch eine erhöhte, hübsch gearbeiteteRednertribüne", den "gelehrten Herren Rednern der Realanstalt gewißeine willkommene Stätte ... zu Entwickelung ihrer wissenschaftlichenIdeen ...". Das Schmuckstück aber war "das Ganze überragend, imvorderen Eckthurme eine Sternwarte mit drehbarer eiserner Kuppel", vonder aus man "eine überraschend schöne Aussicht über Stadt und Land"genieße. Dort war auch die Inschrift "S.P.Q.S." angebracht (senatuspopulusque Stuttgardiensis; Schülermund jedoch: "Saure Prügel quälensehr"). Das in anderthalb Jahren errichtete Gebäude sei unter denneueren Schulbauten "wohl das stolzeste", obwohl der Architekt, Bauratv.Tritschler, das "Äußere ... einfach und prunklos" gehalten habe unddie "Ausstattung der sämmtlichen Räume" lediglich "den von derKöniglichen Regierung für Schulhausbauten aufgestellten Normalien"entspreche.
Die Maßstäbe ändern sich. Manch einem erscheint das unterDenkmalschutz stehende gegenwärtige Gebäude der Schule als eng unddunkel. Der ehemalige Schüler Erich Schneider hat das alte und das neueGebäude erlebt: Das alte war, so schreibt er, "ein düstererSandsteinbau mit sehr kleinem Innenhof", das neue sei "dagegen einPalast" (244). Der Berichterstatter der Schwäbischen Chronik sprach1875 allerdings von "luft- und lichtreichen Räumlichkeiten". DerArchitekt des Gebäudes von 1953, Hans Brüllmann, war Schüler im altenHause gewesen und wollte ganz bewußt eine Alternative zu diesemschaffen, nämlich "durch aufgelockerte Bauweise" und "Klarheit derStruktur" ein "frohes Haus" (245).
Aber bald war das Schulgebäude wieder zu klein, begann erneut dieSuche nach "Lehrzimmern", "Unterrichtslokalen" und "-gelassen". Imdritten Stock wurde Zimmer 41, eigentlich ein Lehrerzimmer, alsUnterrichtsraum benützt. Dr.Bretschneider protestierte dagegen auch imNamen der Kollegen Aßfahl, Weigle, Dr.Diez und Dr.Leuze am 13.Mai 1890schriftlich und in aller Form beim im ersten Stock gelegenen "kgl.Rektorat der Realanstalt Stuttgart". Wegen der ungünstigenLichtverhältnisse in diesem sechsseitigen, dazu mit einem Erkerversehenen Raum hätten "drei Schüler empfindlich Schaden" genommen unddie Lehrer seien genötigt, "sich im Rücken der Klasse aufzuhalten"(246). Selbstverständlich diente Zimmer 41 weiterhin dem Unterricht.
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(3.) 1871 - 1918: Der Anstalt Glanz und Gloria
Das Kaiserreich mit seinen beiden Kriegen an Anfang und Ende bildetauch in der Geschichte der Realanstalt eine Einheit, auch wenn esDurchgehendes gibt und manches vor 1871 schon zu ihm gehörte undSpäteres vor 1918 begann.
Die Realanstalt erlebte in diesen Jahrzehnten, so wird imRückblick klar, ihre Glanzzeit. Ihre Bedeutung in der StuttgarterBildungswelt wuchs, ihre Reifeprüfung galt seit 1900 soviel wie die desGymnasiums. Hintergrund war die Herausbildung einer technokratischenFunktionselite in Staat und Wirtschaft, die neben der alten,humanistischen Bildungsschicht Platz nahm. In diese neue Elite tratendie Abiturienten der Realanstalt ein und legten in ihr z.T. beachtlicheKarrieren zurück (247).
Und noch eine Auffälligkeit wies die Realanstalt jener Jahre auf,die ihrem Ruf gutgeschrieben wurde: Niemals zuvor und nachher hat sieso viele Lehrer gehabt, die sich über ihren "eigentlichen" Beruf hinauseinen Namen machten, z.B. noch als Wissenschaftler Erfolg hatten.
Schließlich hat sich im Kaiserreich an der Realanstalt - jedochauch an den anderen Höheren Schulen Stuttgarts und anderswo - einmonarchistisches, nationalistisches und militaristisches Klimaherausgebildet, das maßgeblich auch die pädagogische Praxis prägte.Seine Entstehung konnte am Werdegang der Fischer und Frisch verfolgtwerden; seine Ausläufer reichen bis über den Zweiten Weltkrieg hinaus.
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(3.1.) Der Aufstieg: Realismusstreit und Brechung des Gymnasialmonopols
Der sog. "Realismusstreit" setzte 1859 ein, als in Preußen Realschulen'1.Ordnung' geschaffen wurden, die zwar über neun Schuljahre, aber imGegensatz zum Gymnasium nicht zur Studienberechtigung führten. DerStreit um die Frage, ob das "Gymnasialmonopol" erhalten bleiben sollte,wurde auf mehreren Ebenen ausgetragen:
■ | 1. Auf dem Feld der Bildungstheorie bestritten die "Realisten" die Meinung, daß "keine Wissenschaft, nicht Geschichte, nicht Mathematik und Naturkunde ... den jugendlichen Geist allseitiger und tiefer zu erfassen und zu bilden" vermöge als die "beiden altklassischen Sprachen". Zum einen wurde bezweifelt, ob das humanistische Gymnasium seinem eigenen Anspruch genüge und nicht "Halbbildung", tauglich vielleicht für Konversation, hervorbringe. Zum andern wurden ihm Mathematik und Naturwissenschaften als gleichwertige und zentrale, daher überlegene Elemente der Gegenwartskultur entgegengestellt - und die Kenntnis moderner Fremdsprachen galt für naturwissenschaftliche Studien als unentbehrlich. Für die Allgemeinbildung erschien auch das Nationale - deutsche Sprache und Literatur, deutsche Geschichte - wichtiger als das antike Erbe (248). Alle diese Motive sind zusammengeführt in der Rede, die Prof.Ehrhart anläßlich der Teilung der Realanstalt 1896 hielt: "Reicher Bildungsgehalt" fehle den Realfächern "keineswegs": was "die alten Sprachen für das Gymnasium", seien Mathematik und Naturwissenschaften für die Realschule"; durch "Lektüre französischer und englischer Schriftsteller" wisse der Realschüler "in den großen Mittelpunkten des modernen Weltverkehrs ... besser" als der Gymnasiast Bescheid, der sich vielleicht "unter den Ruinen der Akropolis" auskenne (249). Und Friedrich Schwend, Lehrer an der Friedrich-Eugens-Realschule von 1867 bis 1908, stellte 1904 in einer Abhandlung die "Kulturfrage: Gymnasium oder Realschule?". Er sprach dabei in der sozialdarwinistischen Weise seiner Zeit vom "Kampf zweier Zeitalter und Denkweisen, die um die Seele des deutschen Volkes ringen ..., bis die eine unterworfen ist." Schwends Fazit : "Das Gymnasium verfolgt von der Gegenwart zu weit abliegende Ideale ... die Zeit ist gekommen, daß es verschwinde" (250). |
■ | 2. Der "Realismusstreit" muß auch unter politischen Gesichtspunkten betrachtet werden. Im deutschen Bürgertum fanden sich weiterhin Liberale - beileibe nicht alle! -, die für realistische höhere Schulbildung eintraten. Waren sie freisinnig, dann hatten sie nicht wie Nationalliberale in erster Linie wirtschaftliche Interessen im Auge, sondern erstrebten auch die soziale Öffnung der Universitäten für die Mittelschichten. Die Sozialdemokratie befürwortete selbstverständlich realistische Bildung, aber sie mißtraute bis 1918 der höheren Schulbildung als einer Klasseninstitution. Woher der Wind wehte, wurde besonders deutlich in Kaiser Wilhelms II. Eröffnungsrede bei der Reichsschulkonferenz 1890, als er die (höhere) Schule in "das Gefecht gegen die Sozialdemokratie" schickte. Es folgte dann eine harsche Kritik am Gymnasium, dem es "an der nationalen Basis" fehle: "... wir sollen junge Deutsche erziehen und nicht junge Griechen und Römer." Im Gehäuse nationaler Bildung oberhalb der Arbeiterschaft hatte dann zwar weiterhin das Gymnasium seinen Platz, jedoch nach Meinung des Kaisers auch "eine zweite Gattung Schulen mit Realbildung" (251). Der "Realismus" bekam Aufwind. Wie sich das "Nationale" trefflich mit dem Aufstiegsinteresse der "Realisten" und dem imperialistischen Stil des Wilhelminismus vereinigte, demonstrierte Ehrhart, als er in seiner Rede 1896 sagte, daß die Realschule "eine ganz hervorragende Bedeutung für unsere nationale Entwicklung" habe. Denn die Deutschen seien "nicht mehr das Volk der Filosofen und Träumer", sondern sie sicherten "sich mit kräftigen Ellenbogen einen Platz am Tische der Nationen". Man stehe "an der Schwelle einer neuen Zeit", und die Realschule werde "Schule dieser Zukunft sein": Der "Realschüler" ziehe als "Kaufmann in fremde Weltteile" hinaus, erobere "dem deutschen Gewerbefleiß neue Gebiete", ringe "der Erde immer neue Schätze, der Natur immer neue Geheimnisse" ab. - Tatsächlich meldete sich so mancher Abiturient der Realanstalt zum "Kolonialdienst" (252). Angesichts dieser Konstellation ist es eher erstaunlich, daß die Gleichberechtigung der höheren Bildungsabschlüsse erst 1900 kam. Natürlich war das auch eine Werk gelungener Besitzstandswahrung der "Humanisten", aber mehr noch Folge der "Überfüllung" der akademischen Berufe nach 1880 (253). Die Zulassung der Oberrealschüler an die Universitäten hätte diese zweifellos noch verschärft. Im Hintergrund stand die sozialkonservative Angst vor einem akademischen Proletariat, "erfüllt von Neid und Haß gegen alles, was hochstehend und glücklich ist ..." - das sagte Bismarck (254). |
■ | 3. Beim Realismusstreit müssen auch die Interessen von Berufsverbänden beachtet werden, hier vor allem des VDI (Verein deutscher Ingenieure). Er bestand seit 1856 und betrieb die Aufwertung der Ingenieurstätigkeit zu einem gehobenen Beruf. Leitbild war der technische Beamte - der Anstoß kam nicht, wie man zunächst vermuten möchte, aus Erfordernissen "der Wirtschaft", sondern aus dem Wunsch, Anschluß an die Statusverheißungen des staatlichen Berechtigungswesen zu finden (255). Fachliches Kriterium für die Akademisierung der technischen Berufe war die Mathematisierung ihrer Grundlagen. Diese wurde Fach für Fach durchgesetzt, und darum traten die Ingenieure für Realgymnasien und Oberrealschulen ein. Parallel zu ihrer Emanzipation werteten Realisten humanistische Bildung wieder auf: Es gab Technische Hochschulen, die im Interesse ihrer Gleichstellung mit Universitäten sich gerne des Gymnasialmonopols als Zugangsvoraussetzung bedient hätten. Ärztliche Standesorganisationen stellten ihr Jammern über unzulängliche naturwissenschaftliche Vorbildung der Medizinstudenten von dem Moment an ein, als sie Zuzug aus dem Realschulmilieu befürchten mußten, und erkannten in humanistischer Vorbildung die unabdingbare Voraussetzung ärztlicher Ethik. Ähnlich hielten es die Juristen (256). Hier muß ein Blick auf das Stuttgarter "Realgymnasium", das heutige Dillmann-Gymnasium, geworfen werden. Es war 1867 durch Abtrennung der realistischen Klassen, der "Barbarenklassen" ohne Griechisch, aus dem Gymnasium hervorgegangen (s.o.). Dillmann wollte eine Schule, in der "unter Wahrung ... der erprobten Grundsätze aller Erziehung, wie sie im Gymnasium gehandhabt wurde", die Mathematik eine besondere Rolle spielen sollte als "der Schlüssel, durch den die Schätze aller Naturwissenschaften gehoben werden ..." (257). Und er stellte 1892 fest: "Neben die altehrwürdigen Universitäten sind die technischen Hochschulen getreten". Das Realgymnasium hatte Scharnierfunktion: Es öffnete den humanistisch Gebildeten die Tür in die Welt der neuen technischen Funktionselite, wie es dieser Zugang zum Sozialprestige des Humanismus gewährte. Auch an der Realanstalt konnte auf freiwilliger Basis von 1885 an wieder Latein gelernt werden (258). |
■ | 4. Im Realismusstreit spielten auch die organisierten Interessen der Reallehrer eine Rolle. Selbstverständlich wollten sie den Abstand zu den Kollegen vom Gymnasium verkürzen. So monierten die Reallehrer in einer Eingabe an den Stuttgarter Gemeinderat vom 20.Jan.1887 (259) die Unterschiede in Bezahlung und Umfang der Unterrichtsverpflichtungen: In den Klassen VI bis X betrugen die Wochenstunden an der Realanstalt 15 - 21, am Realgymnasium 15 - 20 und 12 - 18 am Gymnasium, in Klasse II war das Verhältnis 27:25:24. Der Kampf um die Gleichberechtigung unterschied sich von ähnlichen Auseinandersetzungen in der ersten Jahrhunderthälfte in einem charakteristischen Punkt: Nicht mehr strittig war, daß formale Bildung Voraussetzung eines Universitätsstudiums sein mußte. Den Reallehrern ging es nun nicht mehr um die Etablierung ihrer Fächer, sondern um deren Gleichberechtigung mit den alten Sprachen. Ihr Argument war daher, daß exemplarisches Lernen an ausgewählten naturwissenschaftlichen Gegenständen der formalen Bildung mehr zugute käme als "die Übung des Gedächtnisses mit Hilfe alter Sprachen" (260). Charakteristisch dafür ist die Entwicklung, die der von der Realanstalt mit Funktionären (z.B. Frisch, Blum, Hils) immer gut versorgte württembergische "Verein realistischer Lehrer" genommen hat. 1883 gliederte er sich "zwei wissenschaftliche Abteilungen" an, eine "sprachlich-geschichtliche" und eine "mathematisch-naturwissenschaftliche", suchte also akademische Weihen. Andererseits "mußte" er "sich besonders mit Gehaltsfragen beschäftigen", nämlich mit der Angleichung an die Gehälter der "humanistischen Lehrer"¸ dann aber ging es mit diesen zusammen um die "Einreihung der höheren Lehrer in die entsprechenden Klassen der Staatsbeamten". Daher war es "eine selbstverständliche Folge der Entwicklung der höheren Schulen Württembergs", daß sich Realisten und Humanisten 1909 im "Württembergischen Philologenverein", dem Vorläufer des heutigen Philologenverbandes, zusammenfanden (261). Seitdem wurde die "Kulturfrage" 'Gymnasium oder Realschule?' nicht mehr so laut und apokalyptisch gestellt, wie es noch 1904 Schwend von der FEORS getan hatte. |
■ | 5. Was den "Realismusstreit" so ernst und bitter machte, war die enorme Bedeutung der Berechtigungen, die mit den verschiedenen Schulabschlüssen verbunden waren und die über berufliche Karriere und sozialen Status in der wilhelminischen Stände- und Klassengesellschaft entschieden. Bis auf den heutigen Tag sind die Schulabschlüssse in Deutschland wichtiger für den beruflichen Werdegang als in den meisten anderen Industrieländern. Im Kaiserreich waren die entscheidenden Qualifikationen die Einjährige-Freiwilligen-Berechtigung und natürlich die Zulassung zur Universität. Nicht nur die Ingenieure, sondern auch andere Berufe hängten sich an das staatliche Berechtigungswesen für die Beamtenlaufbahnen an. Nicht der spätere Berufsweg relativierte den Bildungsabschluß, sondern dieser bestimmte jenen; wenn es jemand ohne Abitur zu etwas brachte, war das ein bißchen peinlich. Wozu "Einjähriges" und zehnklassiger Bildungsgang an der Realanstalt berechtigten, war zentral geregelt (262). Seinem Ursprung nach war das Berechtigungswesen, das auf die Preußischen Reformen zurückgeht, eine Waffe des Bürgertums gegen adlige Privilegien. Daher hielten Adel und traditionsgesättigtes Bürgertum wie das hanseatische zum Höheren Schulwesen mit seinem Abitur (in Preußen seit 1811) Distanz. Beispiel ist die Familie Mann: die Nöte des Hanno Buddenbrook am Gymnasium verstehen sich aus dieser Fremdheit ebenso wie die gallige Verachtung, mit der Golo und Klaus Mann auf ihre kurze Zeit an einer Münchner Höheren Schule zurückblicken (263). Oder man nahm es pragmatisch, holte sich, da es sein mußte, nebenbei sein Abitur, ging wie Graf Zeppelin ein Jahr auf die Realanstalt, weil es gerade sinnvoll erschien. An diesen Stellen stieß das höhere Schulwesen sozial an seine oberen Grenzen. Die andere Seite war, daß die Berechtigten nachdrängende Gesellschaftsschichten ausschlossen. Im Kaiserreich schoben das Fehlen der Grundschule, Schulgeld, lange Dauer der Schulzeit und Milieufremdheit dem Aufstiegsstreben von Arbeitern einen Riegel vor. Aber den Mittelschichten hatte die Industrialisierung eine Lücke geöffnet, und es schien ratsam, sie mit Selbstbewußtsein auszustatten und von der Arbeiterschaft zu isolieren. Realanstalten wie die Stuttgarter mit ihrem überwiegend kleinbürgerlichen Publikum erfüllten diese Funktion, und zwar hauptsächlich durch das Einjährige. Der Einjährig-Freiwillige leistete nur ein Jahr Wehrdienst statt drei, mußte sich dafür aber selbst ausstatten; in der Regel brachte er es zum Reserveoffizier. Die württembergische Abgeordnetenkammer stimmte 1868 dem von Preußen übernommenen System zu. Es sei kein "Privilegium für die Reichen", der Einjährige müsse zahlen, außerdem sei es, da an den Abschluß der 7.Klasse geknüpft - später: 6.Klasse -, nicht nur den Abiturienten zugänglich; man benötige die Einjährigen auch "für die intellektuelle und moralische Tüchtigkeit des Heeres" (264). Tatsächlich wurde das Einjährige für die Mittelschichten zur Prestigefrage. Hier - nicht erst beim Abitur - verlief die Grenze zwischen "Gebildeten" und einfachen Leuten. Die maßgeschneiderte Uniform des Reserveoffiziers demonstrierte, wer man war. Die Stuttgarter Realanstalt hat zu den ersten Schulen gehört, an denen in Württemberg das Einjährige zu machen war (s.o.); nach dem Siebzigerkrieg führte ihr dieser Umstand viele auswärtige Schüler zu - deshalb wollte der Stuttgarter Gemeinderat 1875 für den Bau des neuen Schulgebäudes einen höheren Beitrag des Staates (265). Bis 1899 ist in den Schulprogrammen der Anstalt neben den Namen der Abiturienten immer auch die Zahl derer genannt, die das "Zeugnis der wissenschaftlichen Befähigung für den einjährig-freiwilligen Dienst im Heere" erworben hatten. Daß diese Information seit 1900, dem Jahr der Gleichberechtigung mit den Gymnasien, fehlt, ist wohl kein Zufall: Jetzt hatte man noch mehr zu bieten. Der Attraktivität des "Einjährigen" verdankten mehrere Stuttgarter sechsklassige Realschulen ihre Entstehung: die Stöckach- und Schickhardt-Realschule (1910 und 1912) und vorher schon die aus der Realanstalt ausgegliederte Rosenbergrealschule (1904) (266). |
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(3.2.) Der Lehrplan: mehr Allgemeinbildung und eine Prise Reformpädagogik
Der "Normallehrplan" für die Oberrealschulen von 1876 wurdeerst 1903 verändert (267). Die Lehrpläne im Reich mußten nach derGleichberechtigung aller Höheren Schulen harmonisiert werden, damit dieLänder ihre Abschlüsse gegenseitig anerkennen konnten.
Das bewirkte die Reduktion der Stundenzahl der mathematischenFächer und des Zeichnens in den württembergischen Oberrealschulen mitihrer fachschulartigen Ausrichtung auf die Technische Hochschule. Eslag aber auch in der Logik der Gleichberechtigung, daß dieAllgemeinbildung stärker betont wurde. So gewannen die beschreibendenNaturwissenschaften sowie die sprachlich-geschichtlichen Fächer; dieMathematik wurde von 78 Stunden für die Klassen I bis X von 1876 auf 57für die Klassen I bis IX reduziert.
Die Tendenzen von 1903 setzten sich im Lehrplan von 1912 fort(268). Neu war - und auch eine Folge der Gleichberechtigung -, daßnicht von den einzelnen Schultypen, sondern vom Fächerkanon der HöherenSchulen insgesamt ausgegangen wurde: Die Schultypen traten in einVerhältnis der Arbeitsteilung zueinander. Der Fächerkanon verändertesich nicht. Der Lehrplan für Religion, Deutsch, Geschichte und Erdkundewar für alle höheren Schultypen gleich. Insbesondere Deutsch undGeschichte waren die Fächer, in denen sich die von Kaiser Wilhelmgeforderte nationale Bildung zu bewähren hatte. 1912 war der "Sinn fürdeutsches Volkstum zu wecken" (269), eine Formel, die demNormallehrplan von 1876 noch unbekannt war.
Aber der Lehrplan löste dieses Programm eigentlich nicht ein.Statt dessen war noch deutlich die traditionelle Nähe desDeutschunterrichts zu den klassischen Sprachen zu erkennen: Das hießsprachlich-logische Schulung durch Grammatik. Zum anderen wurdeliterarische Bildung angestrebt. Gesichtspunkt für die Auswahl derLektüre war ihre "menschliche und künstlerische Bedeutsamkeit",ansonsten sollte, wie auch schon zuvor, "die individuelleBewegungsfreiheit des Lehrers nicht beeinträchtigt werden" (270). DasNationale mußte sich zunächst durch ein bildungsbürgerliches Filterzwängen.
Die Programme der Realanstalt zeigen (271), wie die Deutschlehrerder Oberklassen von ihrer Freiheit Gebrauch machten. Im Schuljahr1898/99 las Dr.Diez mit der Klasse VII b Schillers Gedichte (inAuswahl) und "Wilhelm Tell", in Klasse VIII die "Odyssee", den "Cid"sowie "Hermann und Dorothea". So hielt es Diez in jedem Jahr. Mit derKlasse X trieb Prof.Güntter Literaturgeschichte "von Lessing an" undlas und erklärte "Goethesche Werke", und so jedes Jahr. Derindividuelle Spielraum verschaffte außerdeutschen Werken Zutritt zumDeutschunterricht, und die humanistische Bildung kam ins Spiel. Daßsich dabei genügend Vaterländisches tat, lassen die öffentlichen RedenDiezens ahnen (272). Im übrigen bildete sich der "klassische"Lektürekanon (Lessing, Goethe, Schiller). Zeitgenössischen Autorenblieb der Zugang zur Realanstalt verwehrt - wie zu fast allen HöherenSchulen. Trotz deutschem Volkstum: In der vom Lehrplan beabsichtigtenPraxis blieb für den Deutschunterricht das 1876 formulierte Zielerhalten, "den Sinn für das Schöne und Erhabene ... zu wecken" (273).
Das Klischee von dumpfer nationalistischer Indoktrination in denHöheren Schulen des Kaiserreichs wird auf Lehrplanebene nicht einmal imdafür prädestinierten Fach Geschichte bestätigt. In der Epoche desHistorismus war Geschichte Leitwissenschaft auf hohem Niveau. DieZeiten, als naiv "merkwürdige Begebenheiten" erzählt wurden, lagenlange zurück. Geschichte auf der Oberstufe sollte "Gegenstand denkenderDurchdringung" sein, in den niederen Klassen "der Anschauung geboten"werden. Es sollten die "Folgerichtigkeit der geschichtlichenEntwicklung", die "Wechselwirkung zwischen Zuständen und Einrichtungenwie handelnden Personen", die "großen Ideen" gezeigt werden, dann erstwar "Verständnis" zu wecken "für die Bedürfnisse und Aufgaben desdeutschen Volkes" aus der "Entwicklung der wirtschaftlichen undgesellschaftlichen Verhältnisse im 19.Jahrhundert". Und vor allem: Essei "bei der Behandlung dieser Stoffe Vorsicht angezeigt und jedeTendenz oder Aufdringlichkeit zu meiden" (274)! Der Lehrplan zielte aufEntwicklung selbständigen Urteils beim Schüler ab und trug - moderngesprochen - pluralistische Züge.
Dieser überraschende Befund wird verständlich, wenn die Grenzengesehen werden, die implizit gegeben waren. Die Bedeutung, die "großenIdeen" und "großen Persönlichkeiten" beigelegt wurde, schloß z.B. einematerialistische Geschichtsbetrachtung aus, und die "Folgerichtigkeitder Entwicklung" wie die Herleitung der "Aufgaben des deutschen Volkes"aus der Geschichte des 19.Jahrhunderts liefen auf einen borussischgefärbten Konsens nationaler Art hinaus, wie er Egelhaafs "Leitfaden"zugrundelag, der an der Realanstalt benützt wurde (275). Der Spielrauminnerhalb dieser Grenzen war genau jener zwischen den vorhandenenParteien jenseits von Sozialdemokratie und teilweise Zentrum(Romorientierung!).
Etwas anderes fällt noch an diesem Lehrplan von 1912 auf: Erenthält erstaunlich viele Hinweise zum einzuschlagenden"Lehrverfahren", mehr als sein Nachfolger von 1928. Dabei istunverkennbar, daß hier bereits Ergebnisse der um 1900 einsetzendenreformpädagogischen Kritik an der "Lernschule" aufgegriffen wurden: Sowird dem Geschichtslehrer erstmals empfohlen, "dem Vortrag ... dasLehrgespräch ergänzend zur Seite" zu stellen, um den Schüler "zurMitarbeit" zu veranlassen; die "Überlastung des Gedächtnisses derSchüler mit Namen und Zahlen" sei zu vermeiden, das "Diktieren einesManuskripts ... unzulässig", auf "Quellen" solle zurückgegriffen werden(276). Liest man all dies gegen den Strich, erfährt man, wie die Praxisvielfach aussah: stures Pauken von Zahlen, Diktate, endloseLehrervorträge, dürftiges intellektuelles Niveau.
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(3.3.) Die Realanstalt als Institution des monarchischen und nationalen Obrigkeitsstaates
Eine höhere Schule war im Kaiserreich eine Institution desObrigkeitsstaates und stand viel mehr im Blickpunkt der Öffentlichkeitals heute. Dabei waren ihr die Formen öffentlicher Präsentationvorgeschrieben.
Alljährlich hatte sie ein "Programm" drucken zu lassen (277). Eswar genau geregelt, was es enthalten mußte (und durfte): 1. EinVerzeichnis der Lehrer 2. "Nachrichten über das Schuljahr", zunächst"Behandelte Lehrgegenstände": hier durfte keine Klasse, kein Fach, keinbenütztes Lehrbuch fehlen; außerdem wurde ein Verzeichnis derLehrmittel gegeben. 3. Bericht des Schulleiters über den Verlauf desSchuljahrs. Penibel führte er über alle Personalveränderungen Buch unddokumentierte, daß die Schule auch außerunterrichtlichenVerpflichtungen nachgekommen war: "Das Geburtsfest seiner Majestät desKönigs am 25.Februar wurde in üblicher Weise feierlich begangen." Under dankte für Buch- und Sacheingänge, z.B. dem "Verein gegen denMißbrauch geistiger Getränke" für ein "Abonnement auf dieInternationale Monatsschrift zur Erforschung des Alkoholismus undBekämpfung der Trinksitten". Den Abschluß eines "Programms" bildetendie Liste der Abiturienten, Angaben zu Schülerzahlen, zu Ferienzeitenund Schulgeld. Zumeist war auf Schulprogrammen das Schulgebäudeabgebildet; im Falle der Realanstalt stammte die Zeichnung von einemSchüler.
Mündliche Prüfungen, die neben schriftlichen vor jeder Versetzunganfielen, waren öffentlich, "das Publikum durch Bekanntmachung in einemöffentlichen Blatte einzuladen" (278). Hier setzte sich eine insMittelalter zurückreichende Tradition fort. Der Kandidat sollte"unerschrocken" zeigen, daß er auftreten konnte (279).
Jedes Jahr inserierte also die Realanstalt und lud gleichzeitigzur Schlußfeier ein. Auch deren Verlauf war durch Vorschrift geregelt:Es war "ein feierlicher Schlußakt zu halten, bei welchem der Vorstand,nachdem die Schüler Proben ihrer Leistungen im Gesang und im Vortrageigener und fremder Geistesprodukte abgelegt haben, die ... zuerkanntenPreise mit einer den Umständen angemessenen Ansprache verteilt" (280) -als Schüler 1968 gegen solche Feiern revoltierten, hatten sietatsächlich, ohne sich dessen bewußt zu sein, eine obrigkeitsstaatlicheDienstvorschrift im Visier. Die Tradition solcher Schlußfeiern endeteam FEG schon 1964 mit der Ära Reinhardt .
Keine Schule im Kaiserreich ließ vaterländische und dynastischeGedenktage vorüberziehen, ohne "freudig" mitzuwirken: durch besondereVeranstaltung oder zumindest durch Teilnahme an öffentlichen Feiern undUmzügen. Es fielen regelmäßig an: Kaisers und Königs Geburtstag, derTag der Reichsgründung am 18.Januar und der Sedanstag am 2.September.Vaterländisches brachten fast immer auch die schulischen Schlußfeiernmit sich. Prall gefüllt war der patriotische Festkalender derRealanstalt 1896, weil der Vorgang der national gefärbten (s.o.)Schulteilung hinzukam; daß es nicht zusätzlich zur Hundertjahrfeierreichte, die wohl auch patriotisch ausgefallen wäre, lag nur amStuttgarter Gemeinderat, der an die opulente Feier von 1868 erinnerteund weder Geld noch Genehmigung gewährte (281). - Übrigens spieltenauch religiöse Gedenktage noch eine Rolle: stets das Reformationsfest,1897 noch Melanchthons 400.Geburtstag.
In solchem Gewande nahmen die Schüler den Staat jenseits desAlltags wahr: bunte Uniformen, Waffen, Militärkapellen, Fahnen,Höhenfeuer um Stuttgart, zackige Reden, Spalierstehen, Umzüge,allgemeine Hochstimmung und dabei die Selbstverständlichkeitallgegenwärtiger Über-, Ein- und Unterordnung. Die Schule war dieInstanz, die den Schüler dem Obrigkeitsstaat einfügte. Und daß dieseFeierlichkeiten disziplinierend gemeint waren, zeigt sich in ihrerakribischen Vorbereitung, bei der eine überragende Rolle immer die"Ordnung" spielte (282).
Nach der Jahrhundertfeier der Befreiungskriege im Oktober 1913,die besonders militant verlief - an der Realanstalt sang man: "DerGott, der Eisen wachsen ließ ..." (283) - und sich im Rückblick wie einPräludium dessen ausnimmt, was 1914 kommen sollte, war der aufwendigsteGedenktag, der in Stuttgart gefeiert wurde, das 25jährige Jubiläum derReichsgründung am 18.Januar 1896. An der FEORS, die natürlich auch amUmzug durch die Stadt teilnahm, hatten zunächst die jüngeren Schülereine Feier, bei der "gemeinsam gesungene patriotische Lieder ... mitDeklamationen" wechselten, "die von den kleinen Rednern ... gar eifrigund selbstbewußt zum Vortrag gebracht" wurden. Vor den älteren Schülernsprachen die Professoren Dr.Diez und Güntter. Diez, einer derdichtenden Lehrer der Anstalt, bemühte zur Feier des Tages denpopulären Kyffhäuserstoff, indem er sein "Barbarossas Erwachen" verlas.Güntter fragte, "wie es komme, daß ein Volk, das auf zwei Jahrtausende(sic!) ruhmvoller Vergangenheit zurückblickt, doch erst heute das25jährige Bestehen seines nationalen Staates feiern" könne. Und erzeigte, daß erst "unter Wilhelm I. und Bismarck" der "BrandenburgischeStaat ... den Mut hatte, die Machtfrage zu lösen, in der dieeigentliche Schwierigkeit der deutschen Frage lag". Güntter mahnte dieSchüler, später "im Beruf allezeit zu sein ein Mehrer des Reichs ..."(284). Borussisch, machtpolitisch und reichsdeutsch national: Wirkennen das schon von Fischer und Frisch. Diez war einer derer, die inder öffentlichen Repräsentation vaterländischer Gesinnung diesennachfolgte: So trat er z.B. zum 25jährigen Sedanjubiläum beimFestbankett in der Liederhalle als Festredner hervor (285).
Bei so viel Hochstimmung schafft es fast Erleichterung, wennhinter all dem Glanz Banalitäten des Schulalltags zum Vorschein kommen:Als die Stadt Stuttgart 1889 aus Sparsamkeit vorschlug, Sedanstag undReichsgründungsfeier zu einem einzigen Fest im Januar zusammenzufassen,lehnte der befragte Rektor Schumann ab, weil im Winter nicht im Freien,sondern nur in einem für alle Schüler zu kleinen Gebäude gefeiertwerden konnte, so daß manche Schüler "zu kurz" kämen, nämlich freihätten (286).
Stets wurde in der Presse über die Feiern an den Schulenberichtet. In der Schwäbischen Kronik waren diese Zeitungsberichtehierarchisch angeordnet. An der Spitze stand immer der Bericht über dasPolytechnikum bzw. die Technische Hochschule. Dann folgten die vierHöheren Schulen für Knaben: Eberhard-Ludwigs-Gymnasium, Karlsgymnasium,Realgymnasium, Realanstalt. Diese Reihenfolge, die nicht dem Alter derSchulen, sondern ihrer Entfernung vom reinen Kern humanistischerBildung am Ebelu entsprach, wurde Jahr für Jahr peinlich genaueingehalten. Auch der Umfang der Berichte war sorgfältigproportioniert: So wurden auf die Feier des 25jährigen Jubiläums derReichsgründung am Ebelu 1896 50 Zeilen verwandt, ebenso auf die amKarlsgymnasium. Das Realgymnasium erhielt 46, die Realanstalt 48Zeilen. Es folgten dann die beiden Höheren Töchterschulen, nämlichKatharinen- und Olgastift, mit erheblich kürzeren Berichten. Die Feiernder zahlreichen anderen Schulen wurden nur mit 4 bis 5 Zeilen bedacht(287).
Die herausgehobene Stellung der Höheren Schulen kann auch an ihrenNamen abgelesen werden: Wenn sie, wie die Realanstalt, wegen Teilungbenannt werden mußten, erhielten sie die Namen der zu ihrerGründungszeit regierenden württembergischen Monarchen (Friedrich Eugen1794 - 97). Nur Höhere Schulen bekamen Monarchennamen, die beidenTöchterinstitute die ihrer Stifterinnen. Das Realgymnasium wurdewährend der Kaiserzeit nicht geteilt, und in der Weimarer Republik wares für einen Monarchennamen zu spät. Daher wurde es sachgerecht nachseinem Gründer Dillmann benannt.Die Schüler erlebten das Statusgefälle zwischen den Schulen intensiv.An den Mützen war zu erkennen, welche Anstalt sie besuchten. Ein'Ehemaliger' erinnert sich, wie gering er sich neben einem Gymnasiastenvorkam (288). Schülermützen wurden auch noch während der WeimarerRepublik getragen, erst die Nationalsozialisten haben sie, weil sie derIdeologie von der Volksgemeinschaft widersprachen, abgeschafft (s.u.).
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(3.4.) Lieber Zucht als feminine Weichlichkeit! Aus der Disziplinargeschichte des FEG
Fragen von Zucht und Ordnung haben an der Realanstalt immereine bedeutende Rolle gespielt - mehr als an anderen Schulen. Dieslassen z.B. die Schlußfeierberichte erkennen, in denen von diesem Themaoft ausführlich und stolz die Rede ist, und Erinnerungen vonZeitgenossen bestätigen diesen Eindruck. Es hat sich eine Tradition von"FEG-Disziplin" herausgebildet - so der Name der Sache nach 1945 -, dieimmer besonders gepflegt wurde und bei deren Erwähnung auch heute nochso manches Pädagogenauge glänzt.
Anders die Perspektive ehemaliger Schüler: Wer immer aus den 50er- Jahren berichtet, erinnert sich schauerlicher Geschichten vonStraffeldzügen, aber auch - das ist die Kehrseite - monströserAufsässigkeiten. Vergessen ist auch nicht die Trillerpfeife, dieSchulleiter Reinhardt zuweilen betätigte. Die Rede ging von der"Kadettenanstalt". Von Schulleiter Reinhardt aber führt die Spur zurückins Kaiserreich: 1917 hat er an der Realanstalt sein Abitur abgelegt(289).
Die Gründe für die besondere Bedeutung der Disziplin an derRealanstalt sind zunächst im wilhelminischen Zeitgeist zu suchen: Alshöchste Werte galten diesem Fleiß, Pflichterfüllung, Gehorsam, Ordnung,Bescheidenheit, ja Demut - jene 'Sekundärtugenden', die, wenn dasRegulativ selbständiger moralischer Entscheidung fehlte, zu jedem Zwecktaugten.
Doch hören wir, mit welcher "äußerst bemerkenswerten Rede" sich1909 Rektor Hirsch als neuer Schulvorstand einführte: Er focht gegen"die moderne Erziehungsweisheit, die im Kind eine selbständigePersönlichkeit ... sehen will"; die "modernen Bestrebungen verrückten... in kurzsichtiger, femininer Weichlichkeit das Ziel einer sittlichzu rechtfertigenden Pädagogik", das "beste Geschenk" für das Kind sei"die Stählung und Übung seines Willens in Gehorsam, Anstrengung undEntsagung; die erste Pflicht des Erziehers sei, seinem geistig undsittlich höher entwickelten Willen den ... des Kindes zu unterwerfen"(290). Hirsch trat an gegen die aufkommende Reformpädagogik (u.a. MariaMontessori), gegen das "Jahrhundert des Kindes" (Elly Ney) undentfaltete ein Weltbild vom "Lebenskampf".
Auf die Frage, warum solche Töne an der Realanstalt besondersgerne gehört wurden, lassen sich zwei Antworten finden: 1. Es fehlteder humanistische Bildungsgedanke, der bei aller Einlagerungwilhelminischer Elemente im Schüler im Sinne Humboldts ein autonomesIndividuum sah - jedenfalls in der Theorie. 2. Die Hervorkehrung derDisziplin entsprach den Maßstäben der kleinbürgerlichen Familien, dieihre Söhne auf die Realanstalt schickten. Diesen sollte es "einmalbesser gehen", und das dazu nötige Tugendsystem forderte Anpassung, denehrfurchtsvollen Blick nach oben, auf höhere Bürger, Staat, Militär. Esverengte die pädagogischen Maximen der Zeit (s.o.) und spitzte sie zu.
Schulordnungen aus verschiedenen Zeiten gewähren Einblick in dieEntwicklung der Sache. 1796, im Gründungsjahr, konnte eine Schulordnungwie folgt beginnen: "Den Lehrern, welche Stellvertreter der Väter, undnächst Gott die größten Wohltäter sind, sollen die Schüler Liebe undHochachtung bezeigen ..." (291).
Hier spiegeln sich die Autoritätsstrukturen des absolutistischenStaates wider, aber 1796 war auch die Schulpflicht noch nichtdurchgesetzt, und einem vielfach störrischen Publikum mußte dasErziehungsangebot des Staates in verständlicher Form - Familie undKirche waren vertraute Größen - nahegebracht werden. Als 1909, im Jahrevon Hirschs Rede, an den Höheren Schulen die Prügelstrafe in Fragegestellt wurde, sagte einer der zahlreichen Freunde des Stocks immernoch, daß der Lehrer ohne dieses Instrument nicht mehr "Stellvertreterdes Vaters" sei (292), dessen Züchtigungsrecht außer Zweifel stand.
Auch spätere Schulordnungen bilden den Zeitgeist oder eine seinerAusprägungen ab. Charakteristisch für die zweite Hälfte des19.Jahrhunderts ist die idealistische Fundierung des Zuchtgedankens.Kultminister v.Golter sprach 1867 von der "Selbstüberwindung" als demBeginn "aller Sittlichkeit" - und er meinte damit die Einhaltung vonSchulordnungen (293). Das Problem liegt hier im Abstand zwischen derErhabenheit des Gedankens und der Banalität des Gemeinten, das ist jeneFalle der Lächerlichkeit, in die strafende Pädagogen gerne tappen. Zumzweiten lief in Wirklichkeit alles auf Fremdbestimmung hinaus, aufDisziplinierung von außen, notfalls mit Gewalt.
In die Schulordnung der FEORS von 1928 wurde in die Rubrik"Allgemeine Pflichten der Schüler" eine Formel aus der Jugendbewegungaufgenommen, mithin aus dem Protest gegen den wilhelminischenLebensstil: "Wahrhaftigkeit" war jetzt Pflicht des Schülers. Es wurdeihm nicht mehr nur Selbstüberwindung abverlangt, sondern ein aktivesVerhalten anderen gegenüber. Der Wandel zeigt sich vielleicht amdeutlichsten in der veränderten Stellung des Klassensprechers: ImKaiserreich wurde dieser vom Klassenlehrer ernannt, und seinevornehmste Aufgabe bestand darin, diesem Verstöße gegen dieSchulordnung anzuzeigen. 1928 stand in der Schulordnung, daß sich derKlassensprecher "jeder Angeberei" enthalten, sein "Amt als Freundseiner Mitschüler" führen solle (294). Die Änderung war übrigens durchdie Novemberrevolution 1918 veranlaßt worden (295).
Gegenwärtige Schulordnungen, die des FEG ist ein Beispiel dafür,lesen sich nüchtern-bürokratisch. Im Hintergrund stehen wenigerErziehungsziele als versicherungsrechtliche Erwägungen. Aber dieseBescheidung ist auch Ausdruck dafür, daß Konsens über pathetischeNormen nicht mehr leicht erhältlich ist.
Bei der Durchsetzung von Zucht hat der Stock lange eineüberragende Rolle gespielt, und zwar mitunter in exzessiver Anwendung.Aus dem Gymnasium der dreißiger Jahre des 19.Jahrhunderts wird voneinem auch an der Realschule bekannten Präzeptor berichtet: "Wer vonihm eine Ohrfeige erhielt, dem summte der Kopf noch nach mehrerenStunden. Kein Teil des Körpers war vor seinen Schlägen sicher. Mehrmalshielt er Knaben an den Haaren in die Höhe und schlug ihnen den Kopf andie Wand ..." (296).
Auch Klumpp, der Visitator von 1853, hat während seiner Zeit amGymnasium geprügelt, wobei ihm "die Schwäche eines reizbaren ...Temperaments ... zu Hilfe" kam. Aber "bessere Überzeugung und dieForderung der Humanität" sprächen gegen das Prügeln, und Klumpp hat alsMitglied des Studienrats darauf hingewirkt, "daß regelmäßigeschriftliche Zeugnisse", die den Eltern vorgelegt werden mußten, dasPrügeln eindämmten (s.o. Paul Haag) - oder ins Elternhaus verlegten(297).
Es war seit Klumpps Zeiten immer der Staat, der bei den robusterenseiner pädagogischen Vertreter auf Milderung drang. Seit 1867 war"körperliche Züchtigung" nur bei "grober Widerspenstigkeit" zulässigund nur durch "eine mäßige Anzahl von Schlägen mit einem dünnenStöckchen auf die flache Hand" (298). Das Stöckchen mußte, wie 1877ergänzt wurde, 0,5 m lang sein (299). Als 1894 die Vorschriftenallgemeiner gefaßt, aber noch milder wurden, fragte das Ministerium beider Realanstalt an, ob an ihr "das Züchtigungsrecht in anderer Weise"wahrgenommen werde, als dies die Vorschrift gestatte. Die neueallgemeine Formulierung hatten einige Lehrer der Realanstalt - und nursie im ganzen Lande! - als Erweiterung ihres Züchtigungsrechtsaufgefaßt (300).
1904 wurde das Prügeln noch weiter eingeschränkt, die Zeit"femininer Weichlichkeit" begann. Von nun an waren nur noch vier Tatzengestattet, und deren Verabreichung mußte auch ins Tagebuch eingetragenwerden. Gewarnt wurde vor der Affekthandlung, am besten sei es ohnehin,durch geschicktes Verhalten "dieses Strafmittel ... entbehrlich zumachen" (301). Wurde aber geprügelt, dann sollte es nur nochvorsätzlich, kalten Blutes und wohldokumentiert geschehen.
1926 wurde ein Lehrer an die FEORS unter Zurückstufungstrafversetzt, weil er zwanzig unprotokollierte Tatzen verabreichthatte. Der gepeinigte Schüler, Sohn eines Landtagsabgeordneten, wandtesich an die Presse, was das Ministerium zu schnellem Handelnveranlaßte. In einem Rechenschaftsbericht bezeichnete der bestrafteLehrer vier Jahre später die Prügelstrafe als "der Höheren Schule"unwürdig (302). So lange sie aber verbreitet war und auch in denElternhäusern geschätzt wurde ("Erst Hiebe, dann Liebe"), war esschwer, auf sie zu verzichten. Ein an der FEORS tätigerReligionslehrer, ein überzeugter Gegner des Prügelns, hat 1927 eineinziges Mal zugeschlagen - aber da richtig! -, nämlich als er an derSchule noch neu war und sich Respekt verschaffen mußte (303). Von da annahmen ihn die Schüler ernst. Wie bekannt, hat sich die Prügelszenemittlerweile aufgelöst.
Die ehrwürdigste Strafe aber blieb lange der Karzer, der im Grundeein Relikt aus dem Mittelalter war, als die Universitäten undGelehrtenschulen noch ihren eigenen Gerichtsstand hatten. Am Gymnasiumnannte sich diese Freiheitsstrafe 1796 noch vornehm "Incarceratio perfamulum" (Einkerkerung durch den Hausmeister) (304). 1877 durfte Karzer"... bis auf 2mal 12 Stunden (bei Tage)" vom Schulvorstand, "bis auf2mal 24 Stunden" nur vom Lehrerkonvent verhängt werden, "beiSchmälerung der Kost" (305).
Der Karzer im Schulgebäude Kanzleistraße 13 war gut frequentiert,wie aus einem Gedicht J.G.Fischers hervorgeht, und ähnlich stand es umdas entsprechende Gelaß in der Langen Straße (306). Auch das derzeitigeSchulgebäude verfügt über einen solchen Raum, der allerdings durch dieRedaktion der Schülerzeitung "Pennhouse" seit Jahren zweckentfremdetwird. Die höchste nachweisbare Karzerstrafe nach 1945 fiel in dieNachkriegszeit. Am 10.Mai 1948 wurde ein Zehntkläßler "wegen roherMißhandlung eines Straßenbahnschaffners" (307) mit 12 Stunden Karzerüberzogen.
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(3.5.) Die Oberlehrer der Realanstalt: lauter wichtige Männer!
Nicht so oft aus Stuttgart, wie man zunächst vermuten möchte,sondern öfter aus Städten wie Weinsberg, Ludwigsburg, Herrenberg,Reutlingen, auffallend häufig jedoch aus Orten wie Goldshöfe,Groß-Süßen, Oberfischbach, Buttenhausen, Heutingsheim kommen dieLehrer, die an der Realanstalt des Kaiserreichs unterrichteten.
In vielen Fällen waren es Aufsteiger aus kleinen und kleinstenVerhältnissen. Wir haben diesen Typus für die erste Jahrhunderthälfteschon an Fischer und Zimmermann kennengelernt. Jetzt wird daraus eineRegel.
Ein Beispiel ist Ludwig Hils, 1885 bis 1896 an der Realanstalt,zum Schluß Vorstand der Bürgerschule (bis 1919) (308). Er wurde 1853 inStuttgart als "Soldatenkind" geboren. Der Vater stieg zumBahnhofsverwalter in Mühlacker auf, mußte aber ins Gefängnis, weilseine Kasse nicht gestimmt hatte. Hils verbrachte die folgenden Jahrein der Kaserne in Stuttgart, dann in einer Bauhütte, welche seineGroßmutter beim Bau der Eisenbahnlinie Heilbronn - Schwäbisch Hallbewirtschaftete, sodann in einer solchen nahe Rottenburg, als dort dieBahn nach Horb entstand.
Entscheidend für alles Weitere war, daß Hils dem evangelischenStadtpfarrer von Rottenburg auffiel, weil er Lieder und Sprüche schnelllernte und stets fehlerlos aufsagen konnte. Das kinderlosePfarrerehepaar nahm Hils bei sich auf, ermöglichte ihm den Besuch derLateinschule - zum Landexamen aber reichte es nicht, weil Hils'Rückstand zu groß war. Dafür kam er 1867 in die PräparandenanstaltNürtingen, dann ins Lehrerseminar Esslingen. Es folgte Volksschuldienstvon 1872 bis 75, und dann wurde Hils nach Prüfung in die Klasse 8 derRealanstalt aufgenommen, obwohl Rektor Frisch gesagt hatte: "So einenalten Schüler können wir nicht brauchen." Hils wohnte bei Verwandten,die Großmutter und die Mutter wuschen und bügelten "in bekanntenFamilien", seine Schwestern waren Dienstmädchen und Kleidernäherin; erselbst gab neben der Schule Privatstunden. 1876 begann Hils an derPolytechnischen Schule seine Ausbildung zum Reallehrer, ein"Staatsbeitrag" war ihm dazu bewilligt worden. Gleich nach dem Examenwurde er an der Realanstalt als "Hilfslehrer" übernommen. Nach kurzerTätigkeit an der Tuttlinger Realschule bekam Hils an der Realanstaltschon 1881 eine Professorenstelle und stieg sehr schnell zumRektoratsassistenten auf.
Ähnliche Bildungs- und Karriereverläufe lassen sich auf Grund vonStichproben bei Bernecker (Vater: Büchsenmacher in Herrenberg,Realschule dort, Oberrealschule in Stuttgart, Polytechnikum, dannUniversität Tübingen, Professoratsexamen), bei Högg aus Ellwangen, beiAßfahl nachweisen (309), bei anderen auf Grund der von M.Kesslergesammelten Lebensdaten begründet vermuten (310).
Ein zweiter, jedoch nicht so häufiger Bildungs- und Karrieretypusführt aus einem bildungsnahen Elternhaus über Landexamen, Seminar,Stift in eine Professorenstelle an der Realanstalt. Diese Karrieren,die auf einem relativ hohen Niveau beginnen, enden in der Regel auchauf einem solchen: Cranz, der Begründer der Ballistik, ist ein Beispielfür einen solchen Werdegang, und Schwend als Sohn eines Pfarrers ist esauch, denn er brachte es zu einem Lehrauftrag an der TH, hatte zumSchluß beim Kultministerium eine hohe Position und heiratete auchentsprechend, nämlich eine v.Üxküll-Güllenbandt (311), die Gründerindes Stuttgarter Reformgymnasiums für Mädchen (312). Alle Rektoren derRealanstalt kamen aus bildungsnahem Milieu, viele aus dem StuttgarterGymnasium, oft auch aus dem Stift. Der erste, der Schüler an derRealschule war, ist W.v.Oelschläger. Sein Vater war auch Pädagoge, undzwar Pestalozzi-Schüler. Er unterhielt jene "Oelschlägersche Schule",in deren Gebäude 1818 die Realschule einzog (313). In dieseambitionierte Vorschule - eine Gründung des Ministers v.Wangenheim(314) - schickte auch der Oberfinanzrat v.Frisch seinen Sohn Christian(315).
Diese wenigen Daten bestätigen die allgemeine Beobachtung: Dassich in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts stabilisierende höhereSchulwesen hat auf Lehrerebene einerseits zur Konsolidierung undAbschließung einer bürgerlichen Bildungsschicht nach unten beigetragen,auf der anderen Seite diese verbreitert. Freilich war es nur eineMinderheit, die aufstieg, sie ergibt an der Realanstalt aber annäherndein Kollegium.
Selbstverständlich ist nicht zu erwarten, daß diese Lehrer Abstandzu jener Gesellschaft hielten, die ihren Aufstieg ermöglicht oderjedenfalls zugelassen hatte. Ein anderes trat hinzu: Die Lehrer an denHöheren Schulen, die "Oberlehrer", gewannen im Kaiserreich insgesamt anAnsehen.
Das hing mit ihrer Funktion als Verteiler der "Berechtigungen" undder sich fortsetzenden Akademisierung immer weiterer Bildungsgängezusammen, aber auch mit ihrer Zuständigkeit für die Verbreitung derrechten Gesinnung. Der Dachverband der deutschen Oberlehrer wies 1907anläßlich der "Hottentottenwahlen" darauf hin, daß sich niemand so fürdie "staatserhaltenden Parteien" - Konservative, Nationalliberale -eingesetzt habe wie der deutsche Oberlehrer (316).
Der Statusgewinn der Oberlehrer zeigte sich auch in der Bezahlung.Nach 1900 gehörten sie zu den oberen 4% in der Einkommenspyramide(317), ein Ergebnis auch zielstrebiger Verbandspolitik, deren Ziel esstets war, die Gehälter den anderen höheren Staatsbeamten anzugleichen,zumal den Juristen (318).
Im einzelnen sieht das freilich etwas anders aus. Das von denEltern der Schüler entrichtete Schulgeld wurde teilweise für dieLehrerbesoldung verwendet. Diskussionen über die Schulgeldhöhe, und siegab es immer, waren darum oft zugleich Auseinandersetzungen über dieLehrergehälter. Staat und Stadt neigten dazu, die Lehrer an HöherenSchulen als "Hilfslehrer", so die für Bezeichnung von Hierarchien stetsoffene Sprache des Kaiserreichs, möglichst lange vor sich hinkümmern zulassen, bis sie eine feste Anstellung als "Hauptlehrer" erhielten. Esoblag ihnen selbst, sich um Verbesserung ihrer Lage zu bemühen, unddann wiesen sie mitunter nicht nur auf allerlei pädagogische Verdienstehin, sondern auch auf untadeligen, daher mit wenig Aufwand verbundenenLebenswandel, und nicht einmal dafür reiche das Geld (319). Wenn derfest angestellte Oberlehrer dann gut verdiente, ist zu bedenken, daß er"standesgemäß" zu leben hatte (große Wohnung, Dienstmädchen,Zugehfrauen usw.), und dann wurde sein Budget wieder knapp. Darumstanden Anzeigen wie folgende vom 8.Juli 1914 immer wieder in der"Schwäbischen Chronik": "Im Hause eines akademisch gebildeten Lehrerseiner hiesigen Lehranstalt, Dr.phil., finden im kommenden Semestereinige Schüler, wohlerzogene Söhne, Pension, gew. Pflege undFamilienanschluß."
Die Ausbildung der Oberlehrer änderte sich im Kaiserreich. Mit denPrüfungsvorschriften von 1898 setzte sich wie zuvor schon bei denJuristen, kurz darauf bei den Medizinern und Theologen, dieZweiphasigkeit durch, mit klarem Übergewicht zugunsten der ersten -wissenschaftlichen - Phase als Folge der zunehmendenfachwissenschaftlichen Spezialisierung an den Universitäten. Esverschwand jetzt der Unterschied zwischen Professorats- undReallehrerprüfung (320). Dieser Trend zur Vereinheitlichung setzte sich1913 fort: Wie im Lehrplan von 1912 von einem einheitlichen, jedocharbeitsteiligen Höheren Schulwesen ausgegangen wurde (s.o.), gab es nunauch eine gemeinsame "Prüfungsordnung für das Höhere Lehramt" (321) -auch das ein Ausdruck der Konsolidierung des Oberlehrerstandes mitscharfer Abgrenzung nach unten.
Freilich fand die innere Hierarchisierung in Lehrerkollegien nurlangsam ein Ende. Am FEG war es bis in die siebziger Jahre diesesJahrhunderts üblich, daß trotz gleicher Qualifikation nur bestimmteLehrer in den Oberstufenklassen unterrichteten; an anderen Schulen wares ähnlich. Lange spielte das Alter in Lehrerbeurteilungen eine Rolle:"kann von einem jungen Mann nichts anderes erwartet werden als ..."usw. (322).
Im Kaiserreich Hierarchien, wohin man blickt. Die fortschreitendeBürokratisierung und Formalisierung des Schulbetriebs - die Bürokratieerrang in Staat und Wirtschaft ihren entscheidenden Sieg - trug zurHervorhebung von Über- und Unterordnungsverhältnissen noch bei, anstattdas Geschäft zu versachlichen. Teilweise lag das daran, daß sich dieBürokraten weiterhin der überkommenen verschnörkelten Kanzleisprachemit ihren Unterwerfungs- und Hoheitsfloskeln bedienten. So hatte der"ergebenst Unterzeichnete" Hilfslehrer Schwend 1899 die ernsthafteAbsicht, "sich ... zu vermählen mit Fräulein Gertrud Freiin Üxküll-Güldenbandt" und "erlaubte sich" - in Wirklichkeit war es seinePflicht -, "die hohe Kultministerialabteilung um Genehmigung dieserEheschließung zu bitten". Eine solch hohe Abteilung stimmte nichteinfach zu - an einen Glückwunsch war ohnehin nicht zu denken -,sondern nahm "Kenntnis" und fand übellaunig "nichts dabei zu erinnern,was dem Hilfslehrer Schwend auf die Vorlage zu eröffnen sei (323)". -War es nicht der Kanzleistil, so sorgte ein mißtrauischobrigkeitsstaatlicher Ton, den frühere Quellen in dieser Ausprägungnoch nicht aufweisen, in den "Vorschriften" für klare Verhältnisse: DerVorstand einer Schule hatte "den gesamten Unterricht zu überwachen"(324), oder der "Turninspektor der FEORS" - das war ein zu diesem Amtbeförderter Turnlehrer - "leitet und beaufsichtigt, in Unterordnungunter das Rektorat, das gesamte Turnwesen derselben" (325).
Die Herren im Kollegium waren sich nicht immer grün; besonders diebedeutenderen unter ihnen gefielen sich in Eifersüchteleien. Siewachten darüber, daß es dem anderen nicht zu gut ging: So finden sichin den Personalakten privat gehaltenen Mitteilungen an Kultusbeamte, indenen auf Privilegien von Kollegen, z.B. auf Nebentätigkeiten,aufmerksam gemacht wurde (326). Es gab auch offenen Streit derPädagogen vor den Schülern: Prof. Größler war unzufrieden damit, daßKollege Rettich ein bei ihm entliehenes Buch nicht persönlichzurückgebracht hatte, sondern durch einen Schüler überreichen ließ.Daher wurde durch einen anderen Schüler Rettich das Buch wiederzurückerstattet und ihm ausgerichtet: "Wenn Sie nicht den Anstandhaben, um das Buch zurückzugeben, dann können Sie es behalten" (327).
Es gab Streitigkeiten größeren Ausmaßes und Disziplinarfälle. Einsolcher Streitfall betraf den renommierten Kollegen Aßfahl. Es hatteZweifel an der Korrektheit seiner Notengebung im Fach Englisch gegeben,und Schumann wollte nun Aßfahls schriftliche Unterlagen sehen. Dieserweigerte sich, die Notenlisten vorzulegen. Nun erschien - nachDarstellung Aßfahls - Schumann vor der Tür der Klasse, in der Aßfahlgerade unterrichtete, und redete diesen, gut hörbar für die Schüler,auf folgende Weise an: " Ich, der ich die Ehre habe, der Vorstanddieser Anstalt zu sein, befehle Ihnen, sofort Ihre Notizen zu holenoder zu sagen, wo man sie finden kann, dann lasse ich sie holen. Ichwerde sofort den Vikar (Stellvertreter) in Ihre Klasse schicken. WennSie nicht gehorchen, thun Sie es auf Ihre eigene Gefahr" (328). Gesagt,getan: Aßfahl wurde abgelöst.
Die Ministerialabteilung sprang in diesem Streit Schumann nichtenergisch bei, und so verhielt sie sich auch bei den jahrelangen, oftskurrilen Auseinandersetzungen zwischen Schumann und Prof. Größler, derals vaterländischer Dichter wirkte und auch, wie vielfach belegt ist(329), den vaterländischen Wein sehr schätzte. Daran nahm SchumannAnstoß - die einzige ministerielle Aktion gegen Größler in Form einerGeldstrafe von 40 RM erfolgte jedoch, nachdem Größler den Spießumgedreht und behauptet hatte, er habe Schumann bei einem Festbetrunken angetroffen. 1896 ließ sich Größler anläßlich derSchulteilung an die Wilhelms-Realschule versetzen und wurde fortannicht mehr gerügt (330).
Es sind dies Hintertreppengeschichten. Sie fügen der glänzendenOberfläche der Realanstalt im Kaiserreich einige mattere Stellen hinzu.Isoliert man die in ihnen enthaltenen Züge: Ehrenkäsigkeit,Wichtigtuerei, Eifersüchteleien, autoritäres Gehabe, Unkorrektheiten,Streitsucht, bürokratische Förmlichkeit, dann erscheinen in Umrissenjene in die Literatur eingegangenen Oberlehrer Heinrich Manns(Professor Unrat), Wedekinds (Frühlings Erwachen) und FriedrichTorbergs (Der Schüler Gerber, nach dem 1.Weltkrieg), die in derSchülerbibliothek des Kaiserreichs - sie gab es damals schon -unbekannt blieben, wie die Verzeichnisse der Bucheingänge zeigen (331).
Nun aber zum Glanz des Hauses. Es wirkten an der Realanstalt desKaiserreichs: Dr.Cranz, der Ballistiker, von 1891 bis 1903, bevor erProfessor in Berlin wurde - "Cranz schießt", sagten die Schüler, wennaus der Physik-Vorbereitung entsprechende Geräusche drangen (332);Dr.Diez (1888 - 1907), theologischer Schriftsteller, Privatdozent ander TH Stuttgart für Philosophie, Lehrer für Kunst- undKulturgeschichte an der Akademie der bildenden Künste, seit 1907Generaldirektor der heutigen Staatsgalerie (333); Otto v.Güntter (1885- 1904), der Begründer und langjährige Leiter des Schillermuseums inMarbach (334); Dr.Karl Kommerell als Mathematiker von 1908 bis 22,bevor er an der Universität Tübingen einen Lehrstuhl bekam (335).
Überblickt man die Ankündigungen von öffentlichen Vorträgen imkaiserzeitlichen Stuttgart, stößt man oft auf Namen von Professoren derRealanstalt: Otto v.Güntter natürlich (z.B. Moltke-Feier im Oktober1890); Dr.Diez des öfteren (z.B. beim Schillerfest des Liederkranzes1890); Ackerknecht, der Philologe (z.B. beim deutschen Sprachverein imMärz 1896); der Naturwissenschaftler Dr.Leuze (beim Verein fürVaterländische Naturkunde, dessen Vorsitzender er war); Dr. Karl Haag,der Dialektforscher (beim Württ. Verein für Neuere Sprachen). Die Listeist nicht vollständig. Nicht vergessen werden dürfen hier Dr.Blum alsVorstand des Liederkranzes, Förstler als dessen Dirigent, derReallehrer Rauschnabel, der als Vorstand und Chronist des MTV Stuttgart(336) das eher kleinbürgerliche Feld besetzte.
Was mit Fischer und Frisch begann, weitete sich aus: DasLehrpersonal der Realanstalt stellte Repräsentanten nationalerBürgerlichkeit sowie des an einzelnen Disziplinen interessiertenBildungsbürgertums, das sich, typisch für diese Zeit und besonders fürStuttgart (337), in Vereinen zusammenfand. Die Realschulprofessorenfühlten sich ihren Wissenschaften verpflichtet, als "Schulmänner" zwar,aber doch auch als Gelehrte. Die Trennung zwischen Wissenschaft undSchule war noch nicht klar durchgeführt, eher war es so, daß mit derHerausbildung der Einzeldisziplinen an den Universitäten derakademische Anspruch der "Schulmänner" wuchs. Den Schulprogrammen mußtealle drei Jahre eine gelehrte Abhandlung beigelegt werden, verfaßt vonOberstufenprofessoren. Kommerell 1914: "Über die Lehre von denProportionen und Flächeninhalten". Hutzelsieder (später Huwald, nachNamensänderung) 1885: "Das Apollonische Traktionsproblem im Raum".Leuze 1876: "Geographische Errungenschaften". Aßfahl 1895: "AlexanderPope und sein 'Essay on Man'". Haag 1903: "Ein altfranzösischesNovellenbuch". Eine Dissertation von 1980 enthält ein längeres Kapitelüber den Wissenschaftler Haag (338).
Bezeichnend ist, daß die Verpflichtung zur Veröffentlichungsolcher Abhandlungen aufgehoben wurde, als sich mit der Prüfungsordnungvon 1912 ein einheitlicher Oberlehrerstand unterhalb der Universitätkonstituierte. Die entsprechende Amtsbezeichnung, nämlich "Studienrat",kam 1919 hinzu. Schon länger hatten die Universitätslehrer ihrenProfessorentitel für sich allein beansprucht. Mit den Doppelkarrierenin Schule und Hochschule war es von nun an im wesentlichen vorbei.
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(3.6.) Die Schüler: am Abend lange in der Kneipe
Während des Kaiserreichs änderte sich die sozialeZusammensetzung der Schüler der Realanstalt kaum: Es war vor allem derhandwerkliche und kaufmännische Mittelstand, der seine Kinder über dieSchichtengrenze des 'Einjährigen' heben wollte. Da Arbeiter nochhandwerkliche Berufsbezeichnungen trugen, ist von den Klassenlisten ausnicht zu ermitteln, ob es auf der Realanstalt Arbeiterkinder gab.
Es ist unwahrscheinlich. Die Hälfte der Stuttgarter Arbeiterkonnte sich aus finanziellen Gründen keine Familie leisten, der Besucheiner Höheren Schule war für ein Kind aus einem Arbeiterhaushalt zuteuer (339). Außerdem gab es noch nicht die allen Kindern gemeinsameGrundschule, von der aus Qualifikation durch Begabung und Leistungmöglich gewesen wäre: Der Eintritt in die Realanstalt setzte den Besuchder Elementarschule oder einer privaten Vorschule voraus - ein frühersozialer Filter. Die Benachteiligung der handarbeitenden Bevölkerungwurde in dieser Zeit bestätigt und verhärtet, auch wenn dieBesitzklassen zunehmend durch eine Leistungsklassenstruktur überlagertwurden - Gewinner waren nur kleine und mittlere Beamte und Angestellte(340).
Zum kleineren Mittelstand traten an der Realanstalt Familien, diein Wirtschaft und Technik beruflich bereits aufgestiegen waren. Diefolgende Reifeprüfungsliste von 1901 ist dafür recht typisch, auch fürdie von den Abiturienten geäußerten Berufs- und Weiterbildungswünsche:
1889 hat Paul Daimler, "Sohn des Fabrikanten in Cannstatt", ander Realanstalt die Reifeprüfung abgelegt. Auch der Vater GottliebDaimler war Realschüler gewesen, nämlich in Ulm (341). Ein anderesBeispiel für einen Realschüler aus Fabrikantenfamilie, dessenavancierte Eltern bewußt den realistischen Bildungsabschluß suchten,ist Erwin Fues. Der Vater, der eine Gold- und Silberwarenfabrik in derAugustenstraße betrieb, beteiligte sich an einer Petition an denLandtag für die Gleichberechtigung der Realschulen. Obwohl mit KarlGerok befreundet, mochte er die meisten Prediger nicht, weil sie ihm zudogmatisch waren, und er verwarf mit ihnen das humanistische Gymnasium.Fues, aus dem ein renommierter Ordinarius für theoretische Physikwurde, schickte seine Kinder dann - in Breslau - aufs humanistischeGymnasium (342): Daß die akademisch aufgestiegene nächste GenerationAnschluß an den traditionellen Bildungsweg suchte, ist nicht selten.
1897 bestand Erhard Junghans aus der bekannten SchrambergerFabrikantenfamilie das Abitur an der Realanstalt, er war später überJahrzehnte hinweg Aufsichtsrat bei den SKF (SchweinfurterKugellagerfabriken). Von 1891 bis 94 wohnte Junghans in Pension beiProf. Fach von der Realanstalt, "wo es spartanisch einfach zuging." Dierestlichen drei Jahre war er "einziger Pensionär im Haus Professor Diezin der Hohenheimerstr., hatte endlich ein eigenes Zimmer und wurde wieein Sohn behandelt" (343). Der Fall Junghans zeigt, wie fern vomElternhaus für eine schulnahe behütete Erziehung gesorgt wurde, wenndie Eltern wollten und konnten.
Solche Privilegien gab es für die meisten Schüler nicht, dochwurden Freistellen gewährt, oder es kam Unterstützung aus Stiftungen.
Die Rektoren Kieser (1857), Ehrhart (1862), Frisch (1873)hinterließen Stiftungen - die von Frisch besteht heute noch. Frischbestimmte die Zinsen aus dem gestifteten Kapital für "zwei derfleißigsten und gesittetsten Schüler der oberen Klassen", Ehrhart füreinen "armen, begabten und gesitteten Schüler, und zwar (den) Sohneiner Lehrers- oder Kaufmannswitwe", Kieser dachte allgemein "anwürdige und bedürftige Schüler". Die anderen vier Stiftungen warenwieder mit einschränkenden Bestimmungen versehen: Eine galt nur fürevangelische Schüler, eine andere nur für "Württemberger christlichenGlaubens" (344), schloß also Juden aus, die es an der Realanstaltnatürlich auch gab, z.B. Mitte des 19.Jhs. einen Sohn aus der bekanntenBankiersfamilie Kaulla (345).
Es kam immer wieder vor, daß Eltern bei der Bezahlung desSchulgelds in Rückstand gerieten. Das "Cassenamt" kontrollierte dieRealanstalt genau. Im Juni 1880 versuchte Schulleiter Oelschläger dasVerfahren gegen Schuldner, deren Söhne bei Zahlungsrückstand von zweiQuartalen von der Anstalt verwiesen wurden, abzumildern. Erst im März,so Oelschläger, habe er drei Schüler relegiert. Nun habe "sich gezeigt,daß wieder Eltern ... mit 2 bis 5 Quartalen ... in Rückstand" seien, essollte doch aber, "ehe fernerhin zu diesem äußersten Mittel" - derAusweisung - "geschritten" werde, "Klage" gegen die Eltern geführtwerden (346).
Auch zehn Jahre später finden wir die Schule auf der Seite derärmeren Schüler. Der Stuttgarter Gemeinderat hatte die Praxis derVergabe von Freistellen an der Realanstalt gerügt: "Es ist ... dieWahrnehmung gemacht worden, daß zu Freistellen Schüler vorgeschlagenwurden, welche zu berechtigten Zweifeln Raum geben, ob sie überhaupt indiese Anstalt passen ...". Und dann: "Wenn mit Recht darüber geklagtwird, daß den höheren Schulen zum Teil ein ungeeignetes Schülermaterialzugeführt wurde, so dürfen ... öffentliche Mittel nicht dazu dienen,ein solches Material zum Nachteil der Schule darin festzuhalten." DieLehrer der Schule gaben unter Verzicht auf den Ausdruck 'Material' zuProtokoll, daß der Realanstalt "gestattet sein müsse, auch minderbegabte Schüler, welche durch Treue und Fleiß sich dessen würdigzeigen, zu einer Freistelle vorzuschlagen ... und daß die Lokationnicht ohne weiteres maßgebend sein könne" (347). Also: Nicht nur einJunghans wurde gefördert, sondern die Schule nahm sich auch ärmererKinder an.
Klagen freilich über 'ungeeignete Schüler' gab es genug, ebensobereits wegen "Überfüllung der höheren Schulen" (348). Seit derGleichberechtigung mit dem Gymnasium bestand für die Lehrer derRealanstalt kein Grund mehr, sich bei diesem Thema zurückzuhalten. Manwar jetzt interessiert an Exklusivität, verstand sich immer offener alsreine Vorbereitungsschule für die Universität. Daher nannte es RektorHirsch "die Schuld des Berechtigungswesens", wenn "ungeeignete Schülerzu lange in der Schule festgehalten werden" (349). In der Tat hattesich der "Übelstand" entwickelt, daß "Leute, die sich demKaufmannsberuf widmen wollen, die 7.Klasse besuchen, ohne Interesse fürden Unterricht zu zeigen, lediglich um der Handelschulpflicht zuentgehen" (350).
Wir verfügen über eine ganze Reihe von Erinnerungen an das Schülerleben an der FEORS des Kaiserreichs.
Alle Berichterstatter sehen ihre Schulzeit als in sich geschlosseneEinheit: Die Sozialform 'Jugendlicher', und darin der Typus 'höhererSchüler', entstand in diesen Jahrzehnten. Sie schuf sich ihre eigenenFelder, Symbole und Rituale, und im Rückblick wird sie innerhalb diesesMusters wahrgenommen: Da ist die Anekdote über das mit Spitznamenversehene Lehreroriginal, und es fehlt nicht der Schülerstreich. EinBeispiel für die Verselbständigung eines solchen Stoffs ist die zuvielen Zeiten wiederkehrende 'Heiligenschein-Geschichte' in MaxHäußlers Beitrag (vgl. S. xy).
Der stadtbekannte Physiklehrer Strobel ("Donle") "hatte beimExperimentieren eine unglückliche Hand" und neigte auch zuRechenfehlern; wenn er sich verbesserte, wurde er von den Schülerngerne durch Zwischenruf gelobt: "Au, dr Professer isch gscheit!" (351).Man konnte ihm auch einen Feueralarm so überzeugend einreden, daß erals einziger mit seiner Klasse das Schulhaus verließ (352). Aßfahl, derkrank und entnervt - auch durch die Kämpfe mit Schulleiter Schumann(s.o.) - vorzeitig in den Ruhestand trat (353), war in seinen spätenJahren das bevorzugte "Opfer ... jugendlichen Übermuts". Einmal flog"ein kunstvoll als tote Maus getarnter, grauer, festgewickelter Lappenin weitem Bogen durch die Klasse", worauf Aßfahl dem Täter lediglich zuentgegnen wußte: "Sie sind ein böser Mensch!" (354).
In einem der Berichte, bei Junghans, wird der bekannteZusammenhang zwischen "aufgestaute(r) Lausbuberei" (355), nämlich unterdem Regiment strenger, autoritär verfahrender Lehrer, und chaotischenSchulstunden bei gutmütigen (Bruker über Aßfahl: "... lernte ich, welchherrliches Gemüt ihm eigen war" (356)) angesprochen, überall klingt eran. Es hat bei manchen Anekdotenerzählern den Anschein, alsfunktioniere der Mechanismus auch nach einem Abstand von vierzig,fünfzig Jahren noch einwandfrei. Und wir erfahren, daß auch im strengenKaiserreich nicht jeder Lehrer schon kraft seines Amtes eine sounumstößliche Autorität darstellte wie der preußische Polizist unterder Pickelhaube. Daß die Achtung vor Erwachsenen bisweilen trainiertwurde (weil es nötig war?), geht aus einem Zeitungsartikel zum 70.Geburtstag des Reallehrers Bazlen hervor. Dieser verwandte einen Teilder Unterrichtszeit darauf, die Schüler das respektvolle GrüßenErwachsener beim Vorbeigehen üben zu lassen, wobei er selbst den Grußentgegennahm (357).
Reverenz wird in den Erinnerungen stets den Größen der Schuleerwiesen ("Persönlichkeiten hinter dem Katheder"; "eine Auslese"): Diez("glänzende Erscheinung"), Cranz ("wurde ein weltberühmterBallistiker"), Leuze ("... hab ihn gefürchtet, daneben aber auchgeliebt"), Huwald/Hutzelsieder ("wohlwollend"), Güntter ("würdevoll,unnahbar für uns Schüler"), andere noch könnten genannt werden. Diem,der in Tübingen Theologieprofessor wurde, hält allerdings mit Kritiknicht zurück: "Prof. Kommerell, dem ich später als Ordinarius fürMathematik an der Universität Tübingen wieder begegnete, hielt seinenUnterricht so, daß nur ein kleiner Teil der Klasse überhaupt mitkommenkonnte." Das einzige Aufsatzthema bei Diems Notabitur 1918 lautete:"Was ist wichtiger: Gesicht oder Gehör?" Diem bekam die Note "sehrgut", fragt aber, ob dies für ihn und seine Lehrer "ein Lob"dargestellt habe. Und dann: "In den Fremdsprachen haben wir gründlichGrammatik gelernt ...", aber nicht "das Sprechen". Diem berichtet auchvon der Anwendung der Prügelstrafe (358).
Nicht viel erfahren wir aus den Erinnerungen über die Kritik, in welche die Höhere Schule im Kaiserreich geriet.
Seit etwa 1890 wurde die "Überbürdung" der Schüler zum Thema, ihreübermäßige Belastung mit Schulfächern, Lernstoff, Schulstunden,Hausaufgaben, Klassenarbeiten. Das Ministerium reagierte mehrmals. 1896wurden die Schulleiter an frühere Bestimmungen erinnert "zur Verhütungeiner Überbürdung der Schüler mit Hausaufgaben". In den Klassen V bisVII sollten die Lehrer z.B. "an der unteren Grenze des vorgesehenenRahmens von 11 bis 14 Stunden" für Hausaufgaben bleiben. 1906 wurde dieim Lehrplan von 1903 vorgesehene Wochenstundenzahl von 33 Schulstunden(Klasse VI - VIII) und 32 (Klasse IX) reduziert; als Höchstarbeitszeiteinschließlich Hausaufgaben hielt das Ministerium bei 230 Schultagen imJahr 48 Wochenstunden für "angemessen" (359). Übrigens drängte es imJahr 1900 per Verfügung auch darauf, "daß das Sitzen der Schüler" inden Subsellien "nach der Körpergröße und nicht nach den Kenntnissen ...durchgeführt wird" (360) - an der FEORS saß man in den neunziger Jahrennach den Kenntnissen (361). Es ging in der Überbürdungsdiskussion, dieimmer wieder aufflackerte, auch um die Einführung der "Kurzstunde" (50statt 60 Minuten), für die - das war neu - wissenschaftliche Argumentevorgebracht wurden, die aus Experimenten über die Effizienz vonArbeitsvorgängen im Beruf stammten (362). Die Kurzstunde kam inWürttemberg erst im Laufe der Weimarer Republik als dem letzten Land imganzen Reich (363).
Selbstverständlich erhoben manche Lehrer gegen dieseAufweichungstendenzen Bedenken. Einzig gegen die Kurzstunde brachtensie nichts vor. Sonst aber bewegten sich viele Äußerungen "ausLehrerkreisen" auf jener Linie der Härte, die Rektor Hirsch 1909angesichts "femininer Wehleidigkeit" ausgezogen hatte (s.o.). Schwendbestritt in einem Zeitungsartikel rundweg die Existenz der Überbürdung(364). Der "Humanitätsgeist" wurde getadelt, die "Lockerung desSchulregiments" beklagt und auf die "in allen Ständen sich äußerndeUnbotmäßigkeit der Jugend" zurückgeführt (365). Den Vogel aber schoß1912 ein Schulmann ab, der angesichts der steigenden Zahl vonSchülerselbstmorden - ein neuartiges oder jetzt erst wahrgenommenesPhänomen (366) - auf "Mittel zur Abhilfe" sann. Die Ursachen derSelbstmorde sah er zunächst in Begabungsmängeln der Schüler, "besondersin den Realschulen". Dann schritt er in der Analyse fort zu der"Lockerung des Willens ... durch die moderne Unterrichtsart ... washier alles geschehen gegenüber früher ..., das läßt schlechterdingsunser Zeitalter als das weichlichste ... aller Zeiten erscheinen. DerSchülerselbstmord entspringt einzig aus einem Mangel an Energie ...Ganz wesentlich lockert die Verminderung der Hausaufgaben diemoralische Kraft der Schüler (367)".
Aus den Quellen entsteht der Eindruck, daß an der FEORS dieSchüler der Gefahr der Verweichlichung entgingen, es ihnen aber auchgelang, Lücken im System zu erspähen: "Wir mußten arbeiten. Rechtscharf war oft das Tempo ..., doch gab es immer Atempausen und unserwachgewordener Geist ließ uns Auswege finden, wenn uns die Arbeit allzulästig wurde" (368).
Bei der Beschreibung der Freizeitwelt der Schüler ist die rasanteVerwandlung Stuttgarts in eine Großstadt im Laufe des Kaiserreichs zubeachten. 1871 zählte es 90 000 Einwohner, 1900 schon 175 000, 1910dann 285 000 (369). Der Spielraum für Kinder und Jugendlicheschrumpfte, typisch dafür: Der Hof des neuen Schulgebäudes warlächerlich klein. Schon 1868 wurde in der Presse die Stuttgarter Jugendbedauert: "In unserer Jugendzeit hatten wir überall Raum für freieBewegung und Spiel: den Turnplatz, die Seewiesen zum Ballspielen undBarlaufen ... Das ist alles anders geworden: ... die Seen reichen fürdie Schlittschuhfahrer nicht mehr aus, zumal der Löwenantheil demEisgewinn zufällt. Wir versündigen uns an unserer Jugend" (370).
Bruker, Abitur 1897, berichtet in seinem Lebensrückblick von denSpielen in der "herrlichen, waldreichen Umgebung Stuttgarts" (371).Aber die Freizeitgestaltung der Schüler dürfte auch schongroßstädtische Züge angenommen haben (nach 1900: "Kinematograph" (372);vorher schon: "Schundliteratur" (373)), bei noch dominierender Rollekleinbürgerlichen Familienlebens mit Betonung von Patriarchat,Wohlanständigkeit und Häuslichkeit. Dieser Eindruck entsteht ausbeiläufigen Bemerkungen in Briefen und Erinnerungen.
Die Schüler der Oberklassen ahmten die Gebräuche der studentischenSubkultur nach, nämlich des Verbindungswesens. 1877 wurde den Schülernder Klasse X von Rektor Frisch erlaubt, "einmal in der Woche in einemWirtslokal zu wissenschaftlichen Zwecken und zu gemeinschaftlichemGesang zusammen zu kommen". Doch 1880 berichtete Rektor Oelschläger demMinisterium: "Abgesehen davon, daß in den sog. wissenschaftlichenVorträgen, welche kaum 1 Stunde dauerten, der graßeste Materialismuszur Schau getragen wurde und der Gesang sich auf Kneipliederbeschränkte, wurde in der übrigen Zeit der studentische Commersgepflegt und oft nicht vor 1 oder 2 Uhr aufgebrochen" (374).
Das Rektorat zog nun die Erlaubnis wieder zurück, jedoch nicht fürimmer. Bis 1911 ließ man im großen und ganzen die Schüler gewähren, ja,es gab Phasen, da war die 1889 gegründete Schülerverbindung "Fidelitas""wohl gelitten". Den wöchentlichen Kneipabenden folgte anderntags beiRektor Hirsch jedoch scharfer und zügiger Unterricht. Welche Rolle die"ideale Seite" des Fidelitas-Lebens, all diese "Vorträge auf allenGebieten der Kunst und Wissenschaft", in Wirklichkeit gespielt hat, istnicht befriedigend zu klären. In den Akten der Verbindung haben siekeine tiefen Spuren, eigentlich fast gar keine hinterlassen (375).
1911 wurden alle Schülerverbindungen verboten, und zwar vomMinisterium aus. Dort sprach man vom "schädigenden Einfluß" der"Nachahmung studentischer Gebräuche" und auch von der Absicht, die"Antialkoholbewegung" (376) zu stärken. Außerdem war es in Heilbronn imUmfeld einer Schülerverbindung zu einem Selbstmord gekommen, was wohlder eigentliche Grund für das Verbot war. Das "Unwesen" (377) derSchülerverbindungen war in der Presse immer wieder angeprangert worden.
Diese Verbindungen können, auch wenn sie verboten wurden, nichtals Form des Protestes gegen die Erwachsenenwelt betrachtet werden,sondern waren im Gegenteil eher Ausdruck lärmender Anpassung. Sienahmen entweder Studentenleben vorweg, oder sie ersetzten für diezahlreichen Abiturienten, die nicht studierten, das akademische Flair.So ist es wohl kein Zufall, daß mehrere hingebungsvolle Funktionäre derbis 1972 bestehenden "Fidelitas" diesem Personenkreis entstammten.
Aus der Szene des Jugendprotestes, der Jugendbewegung gegen dieBürgerwelt der Konventionen, auch gegen den Militarismus, von Fahrten,Wimpeln und vom Wandervogel erfahren wir nicht viel aus dem Umkreis derRealanstalt. Allerdings: Auf einem Klassenfoto aus dem Jahre 1912,aufgenommen anläßlich eines "Ausmarsches" (= Wandertag), ist einSchüler mit Zupfgeige zu erkennen, dem kultischen Instrument derWandervögel, und erstmals sind hier jugendlich gekleidete Schüler zusehen. Und Albrecht L.Merz, der Gründer der Werkschule Merz, Abitur ander FEORS 1903 und 'Fidelist' sein Leben lang, war am 13.Oktober 1913nicht bei der Jahrhundertfeier des Befreiungskrieges in Stuttgart,sondern auf der Gegenveranstaltung auf dem Hohen Meißner (378), als die"Formel" der Freideutschen Jugend geboren wurde: vom Leben aus eigenerVerantwortung, nach eigener Bestimmung, in innerer Wahrhaftigkeit.Erwin Fues (s.o.) hat der Freideutschen Jugend angehört, und von derJugendbewegung geprägt waren mehrere FEG-Lehrer aus der Mitte desJahrhunderts (379).
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(3.7.) Schulerbuben - die Jahrgänge 1870 - 1872
Ein jedes Aug' so hell,
vom frohen Sichverstehen
ward Männerfreundschaft schnell" -
so lautetdie zehnte Strophe des Gedichts, das die Protokollbücher eröffnet (380), in denen gewissenhaft alle Unternehmungen der "Zwanglosen Vereinigungehemaliger Realschüler der Jahrgänge 1870 - 72" verzeichnet sind, die1912 gegründet wurde. Diese Protokolle geben uns die Möglichkeit, inAusschnitten die Entwicklung einer Schülergruppe zu verfolgen, die imKaiserreich aufwuchs und dabei auch - von ihr selbst hoch veranschlagt- von der Realanstalt geprägt wurde. Die erste Eintragung gilt der"Zusammenkunft" am 5.Mai 1915 in der Liederhalle, die letzte vom20.Dezember 1946 besteht aus einem Nachruf auf den ObervermessungsratErnst Blümer, der über 40 Jahre lang "Vorsitzender", "Führer", "Vater"- der Titel wechselt - der Vereinigung und ihr unermüdlicherProtokollant war.
Die Mitglieder, die "Freunde", wie sie sich nannten, gehörtennicht zu der Minderheit von Oberrealschülern, die in den achtzigerJahren die Reifeprüfung ablegten. Die meisten von ihnen haben dasEinjährige gemacht, einige wohl nicht. Vergleicht man die Berufe - dieTodesanzeigen geben Auskunft -, so ergibt sich ein homogenes Muster:Wir betreten die Welt kleiner bis größerer Selbständiger, vonHandwerksmeistern wie Färbern, Schlossern, Bäckern, Gärtnern, von nichtweniger als fünf Wirten, aber auch von "Fabrikanten" mit Betriebenunterschiedlicher Größe; wir begegnen auch mittleren und höherenAngestellten (mit Prokura) sowie einigen Beamten. Die "Schulerbuben",wie sie in einem Stammlokal genannt wurden , zählten zum alten undneuen Mittelstand.
Auf ihre Schulzeit in der Realanstalt lassen sie nichts kommen.Ihren alten Lehrern, die sich ihnen manchmal zugesellten, bringen siegrößte Hochachtung entgegen. Voller Bewunderung gedenken sie am7.September 1939 des 1931 verstorbenen Dr.Bretschneider, der ihnen 1919einen neuen Weltkrieg prophezeit hat. Stirbt einer ihrer Lehrer, nehmensie an der Trauerfeier teil und legen einen Kranz nieder. Sie haltenKontakt zur Realanstalt, gründen 1918 eigens ein Komitee aus Anlaß derbevorstehenden Hundertjahresfeier (die dann wegen des Kriegs ausfiel).Sie spenden: eine Anzahl Tierbälge aus Südamerika für die Biologie,darunter von einer "roten Beutelratte" - es kam in der Zeitung! -, aberauch, auf Anregung des Schulleiters Dr.Weitbrecht, im Juli 1933 eineSchulfahne mit dem damals üblichen Emblem. Sicherlich: Zwischen Schuleund Berufsleben fehlte dieser Gruppe die prägende Phase des Studiums,so daß die Schulzeit einen höheren Rang behielt. Es spiegelt sich inder unverbrüchlichen Treue dieser "Ehemaligen" zur Realanstalt aberauch die Andersartigkeit einer Jugend, die noch nicht die moderneGroßstadt-, Medien-, Konsum- und Freizeitwelt, die hohe Mobilitätheutiger Jugendlicher kannte. Auch drückt sich in dem Respekt, den sieihren früheren Lehrern noch nach Jahrzehnten zollten, eine derGegenwart in dieser Form fremde Fixierung auf Hierarchien undAutoritäten aus, die für die "Schulerbuben" auch sonst typisch ist -ein Relikt der Kaiserzeit.
Wenn sie feierte (Jubiläen, Familiennachmittage), sorgte dieSchülervereinigung für ein musikalisches und literarisches Programm,das stets einen gewissen künstlerischen Anspruch erhob - der Einjährigewar 'gebildet' -, jedoch die Nähe zum Volkstümlichen nicht leugnete.Regelmäßig trat der Mundartdichter Otto Keller, selbst Realschüler,auf, ebenso der zur Vereinigung zählende Opernsänger Fischötter. Zur65er Feier der Vereinigung erschien Sebastian Blau. Die literarischeLeitgestalt aber war Friedrich Schiller: Der Stuttgarter Schillerkultwurde von den "Schulerbuben" weiter gepflegt, Gedichte wurdenrezitiert, und selbstverständlich ließen sich die "Freunde" von Ottov.Güntter durch das Schiller-Nationalmuseum in Marbach führen. Blümerund einige Freunde verhalfen dem Museum gar zur fotografischenAbbildung eines Kragsteins des Geburtshauses von Schillers Mutter.
Aus den Protokollbüchern blinken immer wieder die politischenOrientierungsmarken nicht nur Blümers, sondern, wie es aussieht, auchder meisten anderen "Freunde" hervor. Da gibt es keine Überraschungen,und doch verblüfft die Kontinuität: Diese Angehörigen des alten undneuen Mittelstands, im Bildungsmilieu der Realanstalt verwurzelt,bewegen sich innerhalb des klein- bis bildungs- undwirtschaftsbürgerlichen politischen Horizontes des Kaiserreichs. Siesind, von der Weimarer Parteienlandschaft aus gesehen, deutschnational.Zeitungsausschnitte und Todesanzeigen aus den Weimarer Jahren, dieBlümer in seine Protokollbücher eingeklebt hat, sind fast durchweg der"Süddeutschen Zeitung" entnommen, einer deutschnational orientiertenTageszeitung jener Jahre, die auch einen antisemitischen Einschlagaufwies und sich schon Anfang der zwanziger Jahre dem entstehendenNationalsozialismus öffnete. Die für Deutschnationale typischemonarchistische Einstellung schimmert ebenfalls durch BlümersProtokolle, dabei weniger in kaiserlicher als württembergischerOrientierung.
Im Ersten Weltkrieg ist man von glühendem Patriotismus erfüllt.Auf den Zusammenkünften wird für die "Feldgrauen" gesammelt, Blümerrührt die Trommel für Kriegsanleihen. In der patriotischen Haltung weißman sich mit den bei den Treffen gastierenden Lehrern einig. BesondersGrößler mit seinen vaterländischen Gedichten hinterläßt Eindruck: "Herzund Hand zu jeder Zeit, sei dem Vaterland geweiht" (zum 1.Mai 1917).Oder Dr.Bretschneider, "der geliebte Lehrer": Sein Sohn war vor kurzemden "Heldentod" gestorben, und nun hielt er vor seinen früherenSchülern eine flammende nationale Rede, die in den gemeinsamen Gesangvon "Deutschland über alles" mündete.
Freilich ist neben allen nationalistischen und militanten Tönenauch das Erschrecken über die Grauenhaftigkeit dieses "entsetzlichen"(11.8.1918), "furchtbaren, blutigsten, von Deutschland selbst nichtgewollten Krieges" (1.10.1919) zu registrieren. Blinder Fanatismus warnicht die Sache der "Freunde". Bei aller Distanz zur WeimarerDemokratie zeigen sich die Ehemaligen vom Mord an Rathenau erschüttert.Blümer notiert: "Am Vorabend" (der Zusammenkunft) "fand die Beisetzungdes ermordeten Außenministers Rathenau statt zugleich auch eineStraßendemonstration in ganz Deutschland. Der Vorsitzende" -Protokollant Blümer selbst - "gibt dieser Stimmung Ausdruck." Entsetzenauch "angesichts der katastrophalen Ereignisse vom 30.6. und 1.7.34",dem "Röhmputsch", und Irritation: Die Losung auf dem Ausflug am 1.Julinach Murrhardt lautete, "keine politischen Ausführungen heutezuzulassen."
Zurück in die zwanziger Jahre. Die Freunde sind fest im rechtenLager verankert: Die Bühne des Konzertsaals der Liederhalle, wo am11.September 1921 die Fünfzigerfeier der Vereinigung stattfand, wurde"in unseren alten Reichsfarben schwarz - weiß - rot geschmückt."Blümer, ein wahrer Präzeptor, der seine "Freunde" immer wieder zuThemen aus Geschichte, Politik, Wirtschaft und Literatur instruiert,eröffnet jedes Jahr im Protokollbuch mit einer trotzigen Losung. Aufdas Jahr 1925 lesen wir die Inschrift im Schwerte Hermanns desCheruskers: "1925. Deutsche Einheit meine Stärke. Meine StärkeDeutschlands Macht." Für die Errichtung des Hermanns-Denkmals war ander Realanstalt gesammelt worden (381).
Mit der Novemberrevolution 1918 beginnt die Reihe jener Treffen,die wegen politischer Ereignisse oder wirtschaftlicher Not verlegt oderabgesagt werden müssen oder nicht sehr zahlreich besucht werden. Diefür den 6.Nov. 1918 angesetzte Zusammenkunft wird verschoben "bis aufgünstigere Zeitverhältnisse", wegen der Inflation wird 1923 ein"Familientag" abgesagt. Der Verlauf der Weltwirtschaftskrise spiegeltsich in der Ausstattung der alljährlich zu Weihnachten abgehaltenen"Tauschverlosung": 1931 gibt es gar keine Geschenke. Im ZweitenWeltkrieg verlaufen die Treffen zunächst normal, wie sich dasAlltagsleben in Stuttgart lange nicht von dem der Friedensjahreunterschied (382). Dann aber mehren sich die Einträge zu"Terrorangriffen". Zur Tauschverlosung an Weihnachten 1943 notiertBlümer, "daß auch manches Minderwertiges und Altes dabei war. Es wirderwartet, daß sich die Freunde künftig auf etwas Besseres besinnen."Die Rüge ging ins Leere. Zu den nächsten Treffen mußten Briketts zumHeizen der Wirtsstube mitgebracht werden, und vom Juni 1944 anunterblieben die Zusammenkünfte der "Freunde" wegen der Bombenangriffeganz. Sie lebten Anfang 1946 noch einmal auf, und seit September lageine Genehmigung der Amerikaner vor!
Wie selbstverständlich öffnen sich die Freunde um 1930 demNationalsozialismus. Zwar werden nur wenige Parteigenossen. Sie sindschon recht alt, ein Karrieremotiv ist nicht gegeben. Aber die NSDAPimponiert ihnen. Blümer agiert nicht mehr behäbig als "Vorsitzender",sondern nennt sich seit 1931 "Führer" der Schülervereinigung, bei derer sich am 6.5.1935 für "restlose Gefolgstreue" bedankt. 1937allerdings wendet sich der Ton ins Familiäre: Von nun an ist Blümer"der Vater" (19.Dez. 1937). Die Freunde, deren Reihen sich lichten, dieauch Ehefrauen verlieren, rücken noch enger zusammen.
Aber die Zustimmung zur NSDAP bleibt erhalten, wenn auch derEnthusiasmus der Anfangsjahre nachläßt. Am Vorabend der Reichstagswahlvom 5.März 1933 herrscht bei den Freunden noch "eine Hochstimmungnationaler Begeisterung", und Blümer weist "auf die Bedeutung der Wahlhin." Am 19.April 1934 gedenkt Blümer des bevorstehendenFührergeburtstags, und die Freunde singen Deutschland- undHorst-Wessel-Lied. Der Ton der Jahreslosungen ist aggressiv. Für 1935lesen wir: "Der Deutsche, der kein Deutscher nicht, Des Name sei dieSchande!". Der Krieg dann, so heißt es am 7.Sept.1939 lediglich, wurdeDeutschland von England und Frankreich aufgezwungen - so stand es inden Zeitungen.
Welches Bild vermitteln die Protokollbücher? Die Mentalität dieser1870 bis 72 geborenen Realschüler kleinbürgerlicher Herkunft istzutiefst imprägniert durch das im Kaiserreich nicht nur in der Schulevermittelte Weltbild. Der berufliche Werdegang dieser - auch das isttypisch - überwiegend protestantischen Schüler innerhalb des alten undneuen Mittelstandes hat diese Orientierung eher verfestigt. DieOffenheit für den Nationalsozialismus erklärt sich aus einem latentensozialen Bedrohungsgefühl: Angst vor Demokraten und Sozialisten, vorGeschwindigkeit und Unübersichtlichkeit des politischen,gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels seit 1918. DasFesthalten am 'Freundesbund', die kleinräumige Fixierung auf Stuttgartund seine damals noch ländliche Umgebung - die Freunde erreichtengerade Schwarzwald und Albtrauf, das Ausland nahmen sie alsKriegsschauplatz zur Kenntnis - können ebenfalls als Reflex auf dieZumutungen der Moderne verstanden werden.
Die Freunde waren in der von der NSDAP verbreiteten Aufbruchs-,Sammlungs- und Erfolgsstimmung ganz bei sich. Natürlich ist es auchkein Zufall, daß die Form der Schülervereinigung trotz aller"Zwanglosigkeit" zunächst der (klein-)bürgerliche Verein("Vorsitzender" Blümer), dann die Partei ("Führer" Blümer), schließlichdie Familie ("Vater" Blümer) war. Im Kern kam es den "Schulerbuben" aufein dauerhaftes, verläßliches Gemeinschaftsgefühl an: "Der Verlauf desWeihnachtsfestes", schrieb Blümer am 19.Dez. 1936, "hat uns wiedergezeigt, was ächte (!) Volksverbundenheit ist und wie solche bei unsseit langer Zeit geübt wird" (und in der propagierten Volksgemeinschaftnicht?).
Ein kleiner Vergleich mit der "Fidelitas", der Gründung von 1889,bietet sich an. Das Band zwischen ihren Mitgliedern erwuchs nicht ausgemeinsamer Generationenzugehörigkeit, sondern aus den studentischenRitualen des Verbindungslebens. Ihr höherer Bildungsabschluß - in derRegel Studium -, aber auch ihre Zugehörigkeit eigentlich schon zum20.Jh. verhinderte die Bildung einer homogenen Gruppe: Sie waren inalle Winde zerstreut, sie wuchsen in eine sich ausdifferenzierendeGesellschaft hinein. Das Kunststück blieb immer, Gemeinsamkeitenaufzuspüren zwischen disparaten Gestalten, so wie das derSchriftsteller Adolf Reitz in seinem Jahrgang versuchte, der sog."Geniepromotion" von 1902. Hier hatte er den Pädagogen Merz, denFlugzeugkonstrukteur Hans Klemm, der Ende des Zweiten Weltkriegs vonder Gestapo verhaftet wurde, und auch Hugo Sperrle, den Befehlshaberder "Legion Condor" im Spanischen Bürgerkrieg, miteinander in einevernünftige Beziehung zu bringen. Er tat es, indem er alle drei inhöchsten Tönen lobte und dabei von Sperrle sagte: "Erhaben flogst Duwie ein Condor über flammende Erde!". Und während Sperrle nach derLegion Condor (historisches Stichwort: Guernica) auch noch dieLuftflotte im "Kampf um England" befehligte (historisches Stichwort:Coventry) (383), sammelte Fidelist Max Lütze, geb. 1889, beharrlich"Entartete Kunst" - darunter Nolde, Pechstein, Barlach -, nicht ohnepersönliches Risiko; die Sammlung wurde 1972 der StuttgarterStaatsgalerie als Dauerleihgabe überlassen (384). Und die Vergleichelassen sich fortsetzen: In den zwanziger Jahren besuchte der TheologeLothar König (SJ), der dem "Kreisauer Kreis" nahestand, die FEORS,aber auch Dr. Albert Locher, einflußreicher Personalreferent der StadtStuttgart während der NS-Zeit (385). - Die "Schulerbuben" sin dieletzte faßbare homogene Gruppe, die aus der Realanstalt hervorging.
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(3.8.) 1914 - 18: Patriotismus und bröckelnde Fassade
1916 erschien in der "Technisch-hygienischen Monatsschrift 'DasSchulhaus'" ein Fachartikel mit der Überschrift "DieKriegsbrauchbarkeit unserer Schulen". Darin wurde festgestellt, daß siesich jetzt "in hohem Maße als kriegsbrauchbar" erwiesen, ob alsLazarett oder Kaserne. Es müsse ihnen wohl "etwas Besonderes ... eigensein", und der Verfasser sucht dieses nun im Grundriß, in den Höfen, inden sanitären Anlagen, und er fragt, ob vom Architekten "in Zukunft aufeine solche Doppelbrauchbarkeit Rücksicht" genommen werden dürfe (386).Wenn die Realanstalt zu den wenigen Stuttgarter Schulen zählte, diemilitärischer Inanspruchnahme entgingen, so vielleicht deshalb, weilihr Hof zu klein geraten war, denn "militärischer Dienst erfordertAntreten in langen Linien ...", und daher mußten kriegstauglicheSchulen mit großen "Freiflächen" ausgestattet sein. So blieb derUnterricht, den in der Vorkriegszeit das Grenadierregiment Nr.119(Königin Olga) regelmäßig im Festsaal der Schule empfing (387), dieeinzige Verwendung der Schule durch Militär.
Um die Kriegstauglichkeit ihrer Schüler und Lehrer aber stand esbestens. Schon am Siebzigerkrieg hatten - natürlich - ehemaligeRealschüler teilgenommen und Lehrer auch (388), und die Anstalt hattesich in den Festzug bei der rauschenden Friedensfeier (Glockenläuten,Höhenfeuer, Salutschüsse) eingereiht (389). Und "Turn- undExerzierunterricht" wurde an den Schulen auf Betreiben deswürttembergischen Militärs schon seit 1868 gegeben (390). Diese"Waffenübungen" hielten an der Realanstalt zunächst Unteroffiziere ab,seit 1871 aber der Hausmeister Wörz, ein im Siebzigerkrieg verwundeterFeldwebel (391). In der Vorkriegszeit beteiligten sich vieleRealschüler an den Kriegsübungen und Aufmärschen des 1912 gegründetenJungdeutschlandbundes, dessen Vorsitzender Thumm an der Realanstalt alsTurnlehrer wirkte. Der oppositionelle "Beobachter" nannte dies "Feld-und Waldstreicherei", die konservative Presse aber "deutscheMannestreue gegen 'den Gott, der Eisen wachsen ließ'" und lobte denPädagogen Thumm (392). Die Formierung der männlichen Jugend im"Jungdeutschlandbund" hat im Reich erheblich zur Militarisierung derJugendlichen und der Entstehung ihrer Kriegsbereitschaft beigetragen(393).
Zu Kriegsbeginn geschah an der Realanstalt dasselbe wie an fastallen Höheren Schulen Deutschlands: Die Oberstufenschüler tratenscharenweise, 88 an der Zahl, als Freiwillige in die Armee ein. DieZahl der Kriegsteilnehmer aus den oberen Klassen - am Schluß nicht mehrnur Freiwillige - erhöhte sich auf insgesamt 203. Von den 35Hauptlehrern der Schule im Jahre 1914 wurden 13 zu Kriegsteilnehmern(394).
Wer noch nicht das richtige Alter hatte, war "zur Mitarbeit beider Mobilmachung, bei der Verpflegung der Verwundeten, bei der Fürsorgefür die Hinterbliebenen" aufgefordert (395). Oder er konnte sicheinstweilen an der im September 1914 gebildeten Jugendwehr beteiligen(16 bis 20jährige). Bei ihrem ersten Zusammentreffen wurden vor allem"Jungdeutsche" - also Thumms Gefolgschaft -, "Pfadfinder, sodann instarker Anzahl ... Schüler höherer Lehranstalten" gesehen, aber auch"Angehörige der kaufmännischen und gewerblichen" Schulen -Volksschulabsolventen werden nicht erwähnt (396). "Der größte Teil derdrei obersten Klassenstufen" der FEORS traten der Jugendwehr bei, auchvier Lehrer "widmeten sich dieser Sache" (397). Dabei gingen nachAuffassung mancher Vaterlandsfreunde Kultministerium und Schulen beider Mobilisierung der Schuljugend zu zögernd vor: Das Band derBürokratie solle "durch einen warmen Erlaß" gelockert, dem "Strom derBegeisterung" im Blute der Württemberger Philologen "der Weg geöffnetwerden" gegen "einige Verehrer der roten Tinte" (398).
Je länger, desto mehr wurde der Krieg in der Schule gegenwärtig:Von 1916 an gab es den "Vaterländischen Hilfsdienst", nämlichfreiwillige Schülermithilfe in der Landwirtschaft (399). Dazu meldetesich stets "eine größere Zahl von Schülern" (400), und auch zum Sammelnvon Bucheckern und "Laubheu" in den Wäldern als Futter für Pferde.Sonderzüge brachten die Stuttgarter Schüler zum Einsatz im Schönbuchoder am Albtrauf (401). Der ehemalige Schüler Erich Schneider erinnertsich an diese Tätigkeiten, aber nicht wegen patriotischer Gefühle, diedabei entstehen mochten, sondern weil der zugewiesene Sammelbezirkneben dem des Olgastifts lag, was "allerlei Gaudi und ...Freundschaften" verursachte (402). Gesammelt wurden von Schülern oderüber die Schule auch Metall und Gold, auch Bücher für die "Krieger",die ins Feld nachgesandt wurden. Schüler zeichneten Kriegsanleihen,ebenso die Lehrer. In einem Erlaß wurde an "die bewährteOpferwilligkeit der Schule, insbesondere der Lehrerschaft" appelliert(403). Beträge von einer Mark an wurden genommen.
Schon im ersten Kriegsjahr fielen vier der Freiwilligen aus denReihen der Schüler, bis Kriegsende wurden es 49; von den 9 Lehrern derSchule, die ins Feld mußten, kamen zwei um, einer geriet inGefangenschaft (404). Der Gefallenen wurde jedes Jahr bei derSchlußfeier gedacht. Schulvorstand Hirsch nannte sie 1915"frühvollendete Jünglinge" (405), und auch in den Schlußreden derfolgenden Jahre bediente er sich dieses Ausdrucks. Im Vergleich zurVorkriegszeit fielen die Schlußfeiern noch um eine Nuance patriotischeraus. 1915 erklangen das: "Sie sollen ihn nicht haben, den freiendeutschen Rhein" und das "Deutschland über alles" (406).
Es entsteht der Eindruck, daß mit der Dauer des Krieges sich diepatriotischen Wallungen beruhigten, dafür aber der Schulbetriebzunehmend aus den Fugen geriet; daß in Rektor Hirschs Abschlußreden dienationale Fassade stets in schönstem Glanz erstrahlte, ist dazu keinWiderspruch.
Für manchen Schüler wurde aber wohl das Auseinandertreten vonSchein und Wirklichkeit in diesem Krieg zumindest unbewußt zum Problem.Es ist schwer vorstellbar, daß die Beschwörung der 'Frühvollendung' imFelde von den Schülern auf Dauer akzeptiert wurde. So läßt esaufhorchen, daß Hirsch 1918 eine Abiturientenrede nicht zuließ, weil"dabei doch nichts herauskäme" (407). Für seine eigene, wieder sehrpatriotische Rede wurde er in der Zeitung gelobt (408), dieAbiturienten aber rückten anschließend ein.
Einige Stationen des Rückgangs der Kriegsbegeisterung und desZerfalls des Schullebens können markiert werden. Kommerell, derberühmte Mathematiker, war zum Landsturm eingezogen worden,unterrichtete aber in Klasse 9 weiter. Er mußte dies in Uniform tun undgab in dieser eine klägliche Figur ab. Außerdem leitete er die Übungender 3.Kompanie der Jugendwehr, bestehend aus FEORS-Schülern. Diesetraten auf der Doggenburg regelmäßig an, aber nicht freiwillig, sondernweil es der Mathematiklehrer verstand, sie zur Teilnahme zu zwingen.Nun waren viele dieser Schüler ohnehin schon, z.T. als Unterführer, beiden Jungdeutschland-Kompanien Thumms engagiert, "also nicht sehrerfreut, ihre Zeit nochmals opfern zu müssen" (409). Dem Patriotismuswurde zu viel zugemutet. Ohnehin lag der Jugendwehraktivität vielerSchüler ein pragmatisches Motiv zugrunde: Sie durften, wenn sieeingezogen wurden, die Waffengattung selbst wählen.
Der Zustand völliger Desillusionierung wurde in DiemsAbiturjahrgang erreicht, der das Kriegsende im Felde oder in derKaserne erlebte. Kaum heimgekehrt - sofern nicht draußen 'vollendet' -,mußten diese Ehemaligen wieder zur Schule, und zwar bis Pfingsten 1919.Sie statteten den Schulbesuch in Uniform ab, "teils weil wir beimEinrücken unsere letzten Zivilkleider in die Spinnstoffsammlung gegebenhatten, teils weil das unser Selbstbewußtsein hob". Hirsch versuchte,sie unter sein Regiment zu zwingen, indem er behauptete, sie müßten dasAbitur nochmals machen. Diem sprach deshalb beim Kultministeriumdreimal vor, bis Hirsch, der patriotische Redner von der Heimatfront,den Kriegsteilnehmern "sein Täuschungsmanöver zugeben mußte". Diem:"Damit lösten sich alle Bande frommer Scheu" (410).
Im Mittelpunkt einer anderen grotesken Geschichte stand derSchüler Otto Biber. Sie zeigt alle Beteiligten, Biber selbst, seinenVater, Rektor Hirsch, die Realanstalt im ganzen und auch dasMinisterium ratlos zwischen Patriotismus, Bürokratie und Kriegumherirren.
Am 25.Mai 1915 trat Otto Biber, Schüler der 8.Klasse, alsFreiwilliger in das Infanterie-Regiment 175 ein. Er tat dies, nachdemsich Italien auf die Seite der Alliierten geschlagen hatte und derVater angesichts dieser neuen Lage keinen Widerstand mehr leistetegegen die "fortgesetzten stürmischen Bitten" des Sohnes, zur Reichswehrzu dürfen. Dabei gingen Vater wie Sohn davon aus, daß "an der Erteilungder Primareife nicht zu zweifeln sei". Ein Jahr zuvor hatte OttosBruder diese in vergleichbarer Lage anstandslos erhalten.
Nun waren "die früher gewährten Vergünstigungen fürKriegsteilnehmer" in der Zwischenzeit aufgehoben worden, doch OttoBiber erfuhr davon wohl nichts. Die "Erhebungen" des Ministeriumsergaben, daß die neuen Bestimmungen den Lehrern der FEORS bekanntgemacht worden waren, aber nicht jeder von ihnen hatte seine Klasseninformiert. Ob Biber Opfer eines solchen Versäumnisses geworden war,blieb offen. Die Schule machte gegen ihn aber geltend, daß zumZeitpunkt seiner Freiwilligenmeldung seine Versetzung noch nichtzweifelsfrei festgestanden habe; außerdem habe er sich gar nichtabgemeldet.
Nach des Unteroffiziers Biber Rückkehr von der Front entwickeltesich ein Briefwechsel um die Anerkennung seiner Primareife, die er fürseine Ausbildung zum Feldmesser benötigte. Zuletzt, man schriebmittlerweile das Jahr 1921, entschied dasReichs-Unterrichts-Ministerium in Berlin zugunsten Bibers: "Nach Lageder Gesamtverhältnisse erscheint die Bitte des Biber durchausgerechtfertigt ..." (411).
Die bürokratische Genauigkeit, die im Falle Biber beobachtetwurde, steht in schreiendem Kontrast zur Nachlässigkeit in derWeitergabe wichtiger Informationen an der Schule und dem weihevoll anihr gepflegten Patriotismus. Eine andere Begebenheit erreicht dasAusmaß des Grotesken: Im Sommer 1919 wurde mit Reifezeugnisformularender FEORS Handel getrieben, und diese Zeugnisse trugen die gefälschteUnterschrift Hirschs. Solche Zertifikate waren tatsächlich an derTechnischen Hochschule vorgelegt worden. Das Polizeipräsidium fandfolgendes heraus: "Die Zeugnisformulare waren im Vorzimmer desRektorats in einem besonderen (nicht verschlossenen) Schrankaufbewahrt. Der Stempel der Anstalt ist auf den Formularen bereitsaufgedruckt. Rektor Hirsch wird seinerseits eine Untersuchunganstellen" (412).
Auch der Verlauf der Novemberrevolution an der Schule kann in denZusammenhang solcher Auflösungserscheinungen gestellt werden. Dasbetraf zunächst Diems uniformierten Jahrgang mit Notabitur: "... wennwir irgendwo gebraucht wurden", schreibt Diem, "ließen wir die Bücherin der Schule liegen und gingen einfach fort." Vermutlich waren dieseSoldaten-Schüler als Ordnungskräfte am Rande von "Streiks, Aufstände(n) und Schießereien" tätig (413). Der spätere Schulleiter UlrichReinhardt z.B., Abiturjahrgang 1917 und noch Kriegsfreiwilliger, tratam 9.Jan. 1919 der Einwohnerwehr Stuttgarts als Mitglied einerStudentenformation bei, die gegen Spartakisten eingesetzt wurde (414).
Mit der Revolution sympathisierten Schüler. In derAbiturientenzeitung der Klasse IXa von 1919 finden sich in einemRückblick folgende Bemerkungen: "... ein geschichtliches Ereignis wargeschehen,/Aber kein solches, wie die gute alte Zeit welche aufwies.../... Etwas Anderes, Modernes, Revolutionäres, Geschwindes hatte sichereignet/.../Auch in jenes Haus ... In der Langenstraße War eineConfusion eingezogen/Die Penaten waren vom Schlafe erwacht.../Zischeln, Tuscheln, Flüstern hörte man/Auf den Gängen und auch inden Zimmern,/Geschrei ertönte, der Hausherr wird belagert/Tosen,Brausen, Zischen, Wild gärte es in der Menge/.../so kam der Tagheran/Wo "Pflicht und Ordnung wich"/.../Unmögliches wardmöglich/Imaginäres reell/.../Der Schülerrat trat neben denOberstudienrat/.../Der Lehrer neben den Rektor/Der Schüler neben denLehrer/."
In der Tat: Es gab eine Schülerrätebewegung. Ausgangspunkt aufpolitischer Ebene war Preußen, entscheidender Einfluß ging dabei vonGustav Wyneken aus, dem jugendbewegten Begründer der "FreienSchulgemeinden": Die Jugend sollte sich selbst erziehen (415).
An den Höheren Schulen in Stuttgart wurden "Schulversammlungen"eingerichtet, an denen alle Schüler der Klassen VII bis IX teilnehmendurften. Sie hatten den "Zweck, allgemeine Fragen aus Schule und Leben,welche die Schüler bewegen, namentlich auch solche, die derstaatsbürgerlichen Erziehung dienen, zu besprechen und die Schülerzugleich zu freier Rede und sachlicher Erörterung zu erziehen" (416).Daneben entstand ein kompliziertes, jedoch sehr demokratischesVertrauensleutesystem.
Selbstverständlich erhoben sich Gegenstimmen. Rektorat undKollegium eines Stuttgarter Gymnasiums warnten in der Presse: "In denVertrauensleuten ... glaubt ein Teil der Schüler ein Gegengewichtgewonnen zu haben gegen die Autorität des Lehrers ... GegenüberNeuerungen gilt es in verstärktem Maß die Achtung und Ehrfurcht vor denErwachsenen und besonders den Vorgesetzten zu erhalten" (417). Ähnlichäußerte sich der Philologenverein (418).
In Diem haben wir einen Zeugen der Rätezeit an der FEORS. Mitmildem Spott erinnert er sich, daß "das revolutionäre Pathos ... nichtsehr heftig" war. Es habe sich "meist in Lappalien" geäußert: "So wurdez.B. gefordert und auch genehmigt, daß wir in der Pause auf der Straßerauchen durften". Andere Diskussionspunkte in den "Schulversammlungen"waren "das moralische Thema des Abschreibens" oder die Einführung insWeimarer Verhältniswahlrecht, mit der Diem als Referent die Schüler solangweilte, daß sie "rebellierten". Rektor Hirsch als Mathematikerrettete die Situation, "indem er ... Grenzfälle aufzeigte, in denen dasSystem versagen könnte". Für das Unterlassen des Abschreibens stelltendie Schüler die Bedingung, Lexika, Formelsammlungen usw. beiKlassenarbeiten verwenden zu dürfen. Die Versammlung nahm bizarre Zügean, als jeder der anwesenden Lehrer erklärte, daß "bei ihm" nichtabgeschrieben werde. Diem meinte, daß es an der Schule nicht einmalfünf Schüler gegeben habe, "die grundsätzlich nie abschrieben". - Eineandere Schülerforderung betraf die Aufhebung der "Lokation", zu einemZeitpunkt allerdings, als sie durch ministeriellen Erlaß bereitsabgeschafft war (419). Sie feierte nach 1945 eine Wiederkehr und wurde1958 in der Schülerzeitung heftig angegriffen (420). Es gab Lehrer, diesie bis in die achtziger Jahre beibehielten.
Die Schülerrätebewegung - es sollte auch auf Landesebene eineSchülervertretung gebildet werden - verlief im Sande. Die Verfasser derAbiturzeitung 1919 zogen Bilanz: "Versammlungen wurden gehalten - Redengeschwungen; Aber ziehst du den Strich und bildest Summa Summarum: Soist sie - negativ." Es blieb jedoch das System der gewähltenVertrauensschüler.
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(4.) Zwischenkriegszeit und Zweiter Weltkrieg (1919 - 1945)
In diesem Zeitraum war die FEORS nicht mehr "die Realanstalt",sondern eine stadtteilbezogene Stuttgarter Oberrealschule untermehreren, wenngleich ihr der Ruf, die für Mathematik undNaturwissenschaften wichtigste Höhere Schule des Landes zu sein,hartnäckig anhing (421). Schulleiter Reinhardt bestand auch in denfünfziger Jahren noch auf dieser Besonderheit (422). Ihre Bedeutung indieser Hinsicht wird in der Festschrift beschrieben (vgl. Otter).
Hier geht es darum, den Ort der FEORS in Weimarer Republik undNationalsozialismus zu bestimmen. Es hat 1919 einen neuen Staatgegeben, aber keine neue Schule: Das wichtigste Kennzeichen - nicht nurder FEORS - blieb, daß sich eine Kontinuitätslinie vom Kaiserreich bisnach 1945 hielt.
Das Problem der Darstellung besteht in der dünnen undungleichmäßigen Quellenlage - z.T. weil wesentliche Bestände imSchulhaus 1944 verbrannt sind. Also muß das Wenige, was da ist, zumSprechen gebracht werden. Das gelingt, wenn man sich ihm von außennähert, von allgemeinen historischen Überlegungen aus, besonders zurBildungsgeschichte zwischen 1919 und 1945.
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(4.1.) Weimarer Republik: Neuer Staat - alte Schule
(4.1.1.) Reformansätze und deutschkundlicher Konsens: "Jegliche parteipolitische Tendenz vermied ich ..."
Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs sollte die Erneuerungder deutschen Gesellschaft von der Jugend ausgehen. In Albrecht L.Merzhat die Realanstalt einen Exponenten dieser Stimmungslagehervorgebracht. Er rief 1918 zu seiner "Jugendarbeit" auf, einer"Tatgemeinschaft". Die Jugend sei zum "Führer (des) Volkesvorbestimmt", und Merz verlangte: "... gesamte Jugend, sammle Dich!"(423). Der Aufruf verbirgt nicht, daß sein Autor den Hohen Meißnerkannte, knüpft aber auch an die Novemberrevolution an und istzeittypisch vor allem darin, daß das Zauberwort 'Jugend' Standes- undKlassenschranken ignorierte und in die Zukunft wies. Mit der banalenWirklichkeit der Republik war die jugendliche Aufbruchsstimmungallerdings schlecht vereinbar; eher schon mit nationalen Visionen. Auchdarum konnte die NSDAP den Kult um die Jugend für ihre Zweckeinstrumentalisieren.
Neben der 'Jugend' war 'Bildung' ein zweiter Schlüsselbegriff nachdem Zusammenbruch. Auch Bildung wies in die Zukunft und mochte in einerGesellschaft, deren Widersprüche seit der Revolution jedermann vorAugen lagen, Einheit stiften. Im sozialdemokratisch geführtenpreußischen Kultusministerium, von dem nach dem 9.Nov. 1918 die erstenbildungspolitischen Anstöße ausgingen, wurde folgende umgesellschaftliche Integration bemühte Formulierung gefunden: "Am Willenzum Deutschtum muß die neue Erziehung ansetzen. Wir müssen ausgehen vondem Begriff einer großen deutschen Kulturnation ... Mit diesem Zielkönnen sich alle Parteien und Weltanschauungen einverstanden erklären"(424).
Dieser nationale Ansatz bei der Bildung hatte anders als der Rufnach der Jugend sofort seine Probe zu bestehen. Er war problematisch indreierlei Hinsicht: 1. Er verfehlte die Wirklichkeit der sozial undweltanschaulich heterogenen Gesellschaft. 2. Er blieb auf dieDemokratie nur negativ bezogen, stellte den politischen Lagern eineimaginäre geistige Gemeinschaft gegenüber. 3. Der Ansatz wich derAuseinandersetzung mit der Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs aus.
Die wenigen Nachrichten aus der FEORS der ersten Weimarer Jahreentsprechen dieser preußischen Empfehlung auf verblüffende Weise.Rektor Hirsch empfahl in seiner Abschlußrede 1920 die "sittlichenAnschauungen jener Männer ..., die in sich verkörpern, was man dendeutschen Idealismus nennt," und führte Goethe als Beispiel für eine"vertiefte Lebensauffassung" an. Eine Variante dieses Gedankens bot er1924, als er auf jene "Geisteshelden" zu sprechen kam - dieWeltkriegsrhetorik hallt nach -, welche "die deutsche Art vor mehr alshundert Jahren wieder in der Welt bekannt machten" (425).
Aber der Gedanke nationaler Bildung stieß sich unterhalb derRhetorik an den verschiedenen Konzepten der politischen Parteien undden Interessen der Lehrerverbände. Das an Integrationssehnsüchteanknüpfende Programm der nationalen "Einheitsschule", das 1918/19 inaller Munde war (Vorgänger: 1848, s.o.), hatte im Grunde keine Chance.Es zielte auf eine Zusammenfassung aller Bildungsbereiche vomKindergarten bis zur Universität in einem einheitlichen System indieser oder jener inneren Gliederung. Im einzelnen bedeutete dies vorallem: eine länderübergreifende Reichsschulbehörde; Wegfall vonkonfessionellen Schranken; Chancengleichheit quer durch alle Schichten("Freie Bahn dem Tüchtigen!"). Die Reforminitiativen liefen sichschnell fest. Reichseinheitlichkeit gab es schon deshalb nicht, weilReformen zunächst in den einzelnen Ländern verwirklicht wurden. DieEntwicklungen drängten hier je nach entstandener politischerKonstellation in verschiedene Richtungen. Es reichte allerdings nochzur Aufnahme von reformorientierten Schulartikeln in die WeimarerVerfassung. Von diesen wurde freilich nur ein einziger (mit Ausnahme-und Übergangsbestimmungen) umgesetzt: Ein jedes Kind mußte die neueingerichtete Grundschule absolvieren, in Stuttgart von 1921 an (426).Man hat diese Entwicklung in Parallele gesetzt zur endgültigenDurchsetzung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts als einerdemokratischen Mindestausstattung. Für die FEORS hieß das:DieElementarschule von 1817 schloß.
Den "deutschen" Bildungsauftrag aber machten die Philologen zuihrer ureigenen Angelegenheit und kombinierten ihn mitStandesinteressen. Gegen die "Einheitsschule", sofern dieser einesozial ausgleichende Tendenz zugrundelag, wandte der württembergischePhilologenverein ein, daß "es nicht auf eine äußerliche ...Einheitlichkeit des Schulwesens" ankomme, sondern daß in ihm "eineinheitlicher Geist" herrsche, daß "alle Schulen, jede in ihrer Art,ihre Schüler durch Einführung in die deutsche Kultur zu deutschenStaatsbürgern erziehen." Besonders die Höheren Schulen: Ihr zukünftigerLehrplan werde "das deutsche Kulturgut ... noch mehr als bisher in denMittelpunkt ... stellen" (427).
Nur kurz hatten die Philologen 1918 zittern müssen. Da war im"Vorwärts" folgendes zu lesen gewesen: "Die sogenannten höheren Schulenwaren von jeher der stärkste Hort der Reaktion ... Die deutscheOberlehrerschaft gehörte immer zu den eigentlichen Hütern des'nationalen Gedankens', sie durchtränkte und verseuchte dieheranwachsende Jugend der oberen Zehntausend und zum Teil auch desMittelstandes mit jener alldeutschen und militaristischen Ideenwelt,die uns in den Wahnsinn des Weltkriegs gestürzt hat. Man kann nichterwarten, daß diese Oberlehrerschaft von heute auf morgen umlernt ..."(428).
Sie mußte es auch nicht. Indem die Weimarer Demokraten denwilhelminischen Staat mit allen seinen Lehrern übernahmen und diese mitder Pflege des 'Deutschtums' betrauten, boten sie ihnen genügendAnknüpfungspunkte an die Vergangenheit. Dieser deutsche Kulturauftragerweiterte sich zu einem umfassenden Bildungskonzept und wurdepolitisiert - nicht zugunsten der Demokratie.
1928 trat in Württemberg - später als in anderen Ländern - einneuer Lehrplan in Kraft, dem das von dem preußischen MinisterialratRichert seit 1925 zum Durchbruch verholfene "deutschkundliche" Prinzipzugrundelag. Für alle Typen Höherer Schulen wurden die kulturkundlichenFächer Religion, Deutsch, Geschichte, Staatsbürgerkunde und Erdkunde zueiner besonderen Gruppe zusammengefaßt. Die Schularten unterschiedensich dann nach "Quellbezirken des deutschen Geisteslebens", nämlichChristentum, Antike, modernem Europäismus, Mathematik undNaturwissenschaften, deutschem Idealismus (429). Als neuer Schultypentstand 1926 die "Deutsche Oberschule".
Der württembergische Lehrplan schrieb vor, daß in jedemUnterrichtsfach "in den Reichtum deutschen Lebens" eingeführt werdensollte, und in § 3 wurde "vor der Überschätzung des Auslands" gewarntund gesagt, "daß über die schwere Gegenwart der Glaube an eine großeMission des deutschen Volkes emporhebt" (430). Von der Demokratie alseinem Gewinn für das deutsche Volk war an keiner Stelle die Rede.
Dieser Lehrplan wurde zu einem Zeitpunkt verbindlich, als dasMilieu der Höheren Schulen längst wieder von einem offenennationalistischen Konsens bestimmt war. 1926 trat im "Tagblatt"nochmals ein aufgeklärter Geist, der verstärkten Unterricht in denmodernen Fremdsprachen befürwortete, in einer Artikelserie mitfundierten Bemerkungen über den "(West-) Europäismus" hervor. Er warfdem "deutschen Menschen" vor, "noch gar kein rechtes Verhältnis zudieser Welt der Moderne ..." gewonnen zu haben. Aber auch ein solcheinsamer Rufer sagte einleitend, damit man ihn für voll nahm, "daß derdeutsche Mensch ... aus der deutschen Art und ... ihrer Entfaltunglebt, daß ihm die deutsche Volksgemeinschaft und die sittliche Arbeitan ihr höchste Pflicht ist ..." (431). Und "von sehr beachtlicherSeite" erschien im "Tagblatt" schon 1926 eine Zuschrift unter dem Titel"Die Verbastardierung der deutschen Schule", die mit biologistischen,tendenziell rassistischen, jedenfalls völkischen Argumenten gegen denFranzösisch-Unterricht wetterte: "Seelische Werte zur Veredlungdeutscher Art bietet die gallische Kultur ... wenig" (432). Angesichtsder "deutschkundlichen" Ausrichtung des Lehrplans von 1928 erstaunt esnicht, daß der nationalsozialistische Kultusminister Mergenthaler, einehemaliger Oberlehrer, im August 1933 sagte, daß "die bisherigenLehrpläne" für die "Weltanschauung des Nationalsozialismus ... imeinzelnen reichen Spielraum lassen" (433).
Die Tendenz des Lehrplans war nicht nur "deutschkundlich", sondernauch demokratiefern. Im Fach Staatsbürgerkunde, das 1928 imwürttembergischen Lehrplan wie schon 1912 als Teilgebiet der Geschichteeingeführt war, lauteten die Lehrziele: "Kenntnis der wichtigstenöffentlichen Einrichtungen und Einsichten in die Grundlagen unseresstaatlichen Lebens. Anleitung zum politischen Verständnis derVergangenheit und Gegenwart. Aufklärung über die Kriegsschuldlüge"(434). Dazu wurden die Lehrer auch in Erlassen aufgefordert, besondersanläßlich des Zehnjahrestages des Versailler Vertrags (435). Auf welchpolitikferne Weise "Einsicht" in die Demokratie genommen werden sollte,lehren folgende Ausführungen auf einer von den Oberschulbehördenveranstalteten Lehrerfortbildung für Staatsbürgerkunde: " DieLebenswirklichkeiten entfalten sich stets mit Satz und Gegensatz",daher treten "aus der Schicksalhaftigkeit dieses Spannungscharaktersdie Gegensätze politischer Art mit Naturnotwendigkeit hervor ..."(436).
Selbstverständlich machten die politischen Kämpfe der WeimarerRepublik nicht vor den Schulen Halt. Die Parteien, links oder rechts,suchten von Anfang an in der Jugend Gefolgschaft. So rief dieBürgerpartei, die württembergische Variante der DNVP, 1919 eine"Jugendgruppe ins Leben, die sich ... zum allergrößten Prozentsatz ausSchülern höherer Lehranstalten" zusammensetzte (437); zur Bürgerparteizählten Egelhaaf, renommierter Rektor des Karlsgymnasiums,Landtagsabgeordneter und Historiker, aber auch Dr.Weitbrecht, derSchulleiter der FEORS von 1930 bis 1945 (s.u.). An der FEORS ging es inSchülerdiskussionen um die Alternative "Autorität und Freiheit" oder -aus rechter Perspektive - "Autorität und Dekadenz" (438).
Zunächst herrschte Unsicherheit über Art und Ausmaß der von denSchulen geforderten politischen Zurückhaltung. Als ein Lehrer seinKlassenzimmer mit Monarchen- und Feldherrenbildern ausstattete, ließdas Ministerium wissen, daß "künstlerisch einwandfreie Bilder undBüsten verstorbener Fürsten, soweit sie geschichtliche Bedeutung haben,nicht zu beanstanden" seien (439). 1921 verbot ein Schulleiterschwarz-weiß-rote Schülermützen an seiner Schule, wurde dafür aber vomMinisterium gerügt (440). Allerdings folgte 1922 ein Erlaß, in demfestgestellt wurde, "daß in den letzten Jahren das Tragen von Abzeichenverschiedener Art durch die Schüler überhand genommen hat"; diesbeeinträchtige "die Aufmerksamkeit ... im Unterricht" sowie den"Zusammenhalt" einer Klasse. Daher wurde bestimmt, "daß, vonKlassenmützen abgesehen, in der Schule keine Abzeichen getragen werdendürfen" (441).
Ein einschneidendes Ereignis war der Mord an AußenministerRathenau im Juli 1922. Von Berlin aus wurden die Rektorate der HöherenSchulen daran erinnert, "daß auch die Lehrer an höheren Schulen sich inihrem Diensteid" - er stammte bei den meisten aus dem Kaiserreich -"zur Treue gegenüber der Reichsverfassung" verpflichtet hätten, und esdem "widersprechen" würde, wenn sie "im Unterricht sich dazu verleitenließen, die gegenwärtigen Staatseinrichtungen und ihre Träger durchabsprechende Bemerkungen ... herabzusetzen" (442).
Zum Gedenken an Rathenau wurde eine Trauerfeier angeordnet. Aneinem Stuttgarter Gymnasium verbot ein Vater seinem Sohn die Teilnahme,wofür der Schulleiter tiefes Verständnis zeigte und Bedenken gegen"Anordnung derartiger ausgesprochen politischer Veranstaltungen anSchulen" vorbrachte (443) - an eben den Schulen, die sich noch zu jedempolitischen Anlaß im Kaiserreich stolz herausgeputzt hatten. DieReichsgründung wurde übrigens weiter gefeiert, das Verfassungsfest am11.August, in den Ferien gelegen, erlangte nie Popularität. DieDemokraten kapitulierten: Die Annahme einer Verfassung sei "ein viel zunüchterner rechtlicher Akt", im Reichsgedanken spreche sich eben "dasvaterländische Weihebedürfnis" aus (444).
Nur anläßlich des Rathenau-Mordes und 1924, als sich Schüler hieund da - wohl auch an der FEORS (445) - trotz Abzeichenverbot mitStahlhelm oder Hakenkreuz auf Windjacke oder Mütze zeigten, erinnertedas Ministerium gegen rechte "Umtriebe" an die Demokratie. Von 1925 anfinden wir nur noch die Linke im Visier. Wenn das Ministerium in diesemJahr Schülern verbot, "sich an Vereinigungen oder Veranstaltungen zubeteiligen, die den gewaltsamen Umsturz der bestehendenGesellschaftsordnung bezwecken", meinte es einzig kommunistischeJugendverbände (446). In den Archiven findet sich für die Folgejahrekein Hinweis mehr darauf, daß es auch rechte Gegner des "Systems"gegeben hat.
Der Fortbestand demokratiefernen kaiserzeitlichen Denkens und dasHervortreten eines nationalistischen Konsenses zeigen sich auch in denwenigen Quellen zur Geschichte der FEORS dieser Jahre. Selbst in der'kulturellen' Phase der Schulabschlußfeiern zu Anfang der Republikwaren nationale Töne nie ganz verstummt. 1921 trugen Schüler Auszügeaus Fichtes "Reden an die deutsche Nation" vor, und 1925 bot man beieiner "vom vaterländischen Geiste" getragenen Feier (447) Szenen ausKleists "Hermannsschlacht" dar - Literatur der idealistischen Epochezwar, aber Werke zugleich, die gegen Frankreich gerichtet waren -, zurZeit Napoleons wie nach dem Ersten Weltkrieg. 1926 kommentierte Hirscherstmals wieder offen die politische Lage. Er wies auf die"Notwendigkeit" hin, das "In- und Ausland" darüber aufzuklären, "wasUrsachen und Wirkungen von Versailler Vertrag und Dawesplan betrifft"(448). Hirschs Nachfolger Müller - Hirsch starb 1927 - wurde für diestrammen nationalen Worte gelobt, die er anläßlich einesSportnachmittags der Stuttgarter Schulen fand (449).
Kronzeuge aber ist der Verfasser eines knapp zwanzigseitigenUnterrichtsberichts von 1930. Dieser Englisch-, Deutsch- undGeschichtslehrer stellte in seinem "Vortrag" den Schülern "dieNotwendigkeit einer starken Staatsgewalt" vor Augen, zeigte, "daß wiran unserer völkischen Eigenart festhalten müssen" und daß "gegen dieöde Gleichmacherei unserer Zeit angekämpft werden muß ..."; auch vonAntisemitismus waren seine Darlegungen nicht frei (s.u.). All demsetzte er die Krone auf, indem er sagte: "Jegliche parteipolitischeTendenz vermied ich ..." (450). Man darf daraus schließen, daß sichdieser promovierte und alles andere als naive Historiker im Rahmeneines Konsenses bewegte, der für die Höheren Schulen insgesamt galt.
Andererseits haben unterhalb der politischen Ebene einigeNeuansätze aus Reformpädagogik und Weimarer Gegenwart die FEORSzumindest gestreift.
Das gilt besonders für den Arbeitsunterricht, der sogarVerfassungsauftrag war (451). Der Gedanke stammte aus dem spätenKaiserreich und konnte bedeuten: Arbeit als handwerkliche Betätigung imDienste allgemeiner Bildung; Arbeit als Berufsvorbereitung; Arbeit alsdidaktisches Prinzip, nämlich der geistigen Selbsttätigkeit (452).
Auf dem Gebiet der handwerklich orientierten Arbeitsschule hattedie FEORS eine reformerische Tradition vorzuweisen: Prof. Cranz leitetein den neunziger Jahren des 19.Jhs. eine "Schülerwerkstätte", die sehrgelobt wurde (453), Albrecht L.Merz hat mit seiner "Werkschule" an die"Arbeitsschule" angeknüpft, nannte seine Bewegung von 1918 (s.o.) jaauch "Jugendarbeit". An den Höheren Schulen der Weimarer Jahre sollteder Arbeitsunterricht als didaktisches Prinzip gelten.
An der FEORS haben einige "Arbeitsgemeinschaften" stattgefunden(454) - der Begriff kommt aus der Reformpädagogik. Ein Lehrer wieU.Reinhardt, der spätere Schulleiter des FEG, galt mit seinem"Schnürle" als "methodisch neuzeitlich" (455). SeinRechenschaftsbericht von 1930 - noch nicht von der FEORS - beweist, daßer sich in arbeitsunterrichtlichen Kategorien bewegte (456). Ebensokann das vom Physiklehrer Deker gesagt werden (457). ReinhardtsAusführungen zeigen auch, daß sich die Pädagogik als selbständigeWissenschaft etabliert hatte und mit ihr auch die Psychologie Einzug inmanche Schulen hielt. Die Bemerkung Reinhardts, daß "Erfolgsgefühl" derSchüler "ein sehr wichtiger Faktor in der Erziehung" sei, zeugt davon.Reinhardt wurde 1932 lobend bescheinigt, daß er "seinen Unterrichtpsychologisch zu fundieren" suche (458).
Selbstverständlich wurden Psychologie und Arbeitsunterricht, bevorsie mit jüngeren Lehrern richtig Fuß gefaßt hatten, nach 1933 aus denSchulen verbannt, und schon im Lehrplan von 1928 war in dieser Richtungweniger zu lesen als in dem von 1912. Und in dem oben erwähntenGeschichtslehrer finden wir einen Mann, der dem neuen Verfahren mehrals skeptisch gegenüberstand. Er wollte in seinem Bericht zwar nichtfür die alte "Lernschule" eintreten - man verstehe ihn recht! -, warauch ganz gewiß der Meinung, "daß man die Selbsttätigkeit der Schüler... bei jeder sich bietenden Gelegenheit wecken" solle, aber - und esfolgen nur Aber! - all dem stehe schon entgegen, daß Schulklassen"keine freiwilligen, sondern Zwangsarbeitsgemeinschaften" seien.Arbeitsunterricht könne "doch nur dann richtig durchgeführt werden ,wenn sich die Schüler gerne und freudig zur gemeinsamen Arbeithergeben, und wie sehr fehlt gerade dieser innere Antrieb ...", und sogeht das weiter: Die Schüler sind "widerspenstig, ... und störrisch"(459). Kurz: Die Reformpädagogik scheitert an der rauhen Wirklichkeitder FEORS - von außen gesehen aber an dem nicht nur politischenKonservativismus vieler Lehrer. Ihnen sprach der NS-Pädagoge ErnstKrieck wohl aus der Seele, wenn er in arbeitsunterrichtlichen Methoden- Gruppenarbeit, Unterrichtsgespräch - das "Prinzip der Anarchie"erkannte (460).
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(4.1.2.) Grenzlinien: Jugendleben als Schmuggelware
Der vorherrschende Eindruck ist der von geistiger,pädagogischer und politischer Immobilität von zumeist älteren Lehrern.Der Ehemalige Buck beschreibt die Sache für den Anfang der zwanzigerJahre so: "Wir wußten, daß unsere alten Lehrer uns das Beste gaben, wassie zu geben hatten, aber wir wußten genau so gut, daß wir selbstunseren eigenen Weg in die Zukunft zu gehen hatten." Buck erinnert sichan den Deutschlehrer Haag, der die Schüler "mit hochrotem Kopf" vorGerhart Hauptmann und Thomas Mann warnte - die Literatur schien Haagwie anderen Philologen mit Lessing, Schiller und Goethe ans Zielgekommen. Buck und einige Mitschüler wagten sich zum Expressionismusvor, stritten gar "um die künstlerischen Intentionen des Bauhauses",darin von Kunsterzieher Finkbeiner angeregt, der damals nicht so rechtins behäbig-traditionalistische Bild des Kollegiums paßte, z.B. mitErfolg Schülerarbeiten im Kunsthaus Schaller ausstellte (461).
Vermutlich berichtet Buck von einem eher elitären Schülerkreis undeiner nicht gar so häufigen Trennlinie zwischen den Generationen. Eineandere zwischen Lehrern und Schülern verlief entlang von sozialenGrenzen. Belege liefert wieder der Verfasser des Rechenschaftsberichtsvon 1930, der über die FEORS-Schüler aus "kleinbürgerlichen, kulturellwenig hochstehenden Kreisen" klagte. In der Tat war das Publikum derFEORS, die zwischen 1919 und 1939 immer von etwa 550 Schülern besuchtwurde, ungefähr dasselbe geblieben wie im Kaiserreich, mit mehrAngestellten und mittleren Beamten - entsprechend den Verschiebungender Berufsstruktur im Mittelstand - und festgelegt durch dasEinzugsgebiet (hauptsächlich Stuttgarter Westen) (462). Belege dafür,daß manche Lehrer sich nur ungern auf diese Schüler einließen - derBerichterstatter diskriminierte sie auch noch als Schwaben ("maulfaul")-, gibt es nun, auch nach 1945, immer wieder, und sehr im Unterschiedzum Kaiserreich. Aussagen dieser Art dienten allerdings wohl mehr derSelbststilisierung der betreffenden Lehrer als der Analyse ihrerSchülerschaft: Jener bildungsstolze Berichterstatter von 1930, den dieSchüler als "Aristokraten" wahrnahmen (463), hat seine Schulbildungdurchaus an der verachteten Realanstalt empfangen (464).
Eine dritte Bruchlinie zwischen Schule und Schülern fällt nochmehr auf: In den zwanziger Jahren traten erstmals die Lebenswelt derSchüler und die Wertvorstellungen des 'Ezieherkorps'' so weitauseinander, daß dies zum Problem wurde. 'Jugend' begann jenseits derSchule zu einer eigenen Lebensform zu werden - was nicht in der Absichtderer gelegen hatte, die sie 1918 zur 'Führung' aufriefen (s.o.). 1926sprach der einflußreiche Oberstudiendirektor Griesinger in einerUmfrage des "Tagblatts" - in ihm erschien, auch das ist typisch,regelmäßig eine Sonderseite "Jugend" - das Problem an: "Jugendleben undSchule!? Tag und Nacht! Muß nicht der, der die Schwelle der Schuleüberschreitet, alle Hoffnung auf Leben lassen? Ist Jugendleben dortnicht höchstens Schmuggelware?" Er wünschte sich die Schule als "Stättejugendlichen Lebens" - weil sie es offenbar auch in seinen Augen nichtwar (465).
Für das Schülermilieu der FEORS war weniger die Jugendbewegungprägend - sie lagerte sich vor allem dem Bildungsbürgertum an -,sondern die vordringende Großstadtzivilisation mit ihren 'heimlichen'Erziehern: Presse, Film, Sport, kommerzialisierte Freizeitwelt. RektorHirsch warnte schon 1920 vor Oberflächlichkeit, vor "Genießen undleichtem mühelosen Erwerb" (466), meinte damals aber wohl denLebenshunger nach dem Krieg. Doch das Motiv taucht auch imRechenschaftsbericht von 1930 auf: "Kunst und Religion" sänken bei derJugend "immer mehr im Kurs", denn "die Welt um sie herum" sei"...entgeistigt, ... verflacht und materialistisch". Der EhemaligeKuhn, Abitur 1931, berichtet denn auch in aller Arglosigkeit von demtiefen Eindruck, den bei seiner Generation "Der blaue Engel"hinterließ, erinnert sich mit großem Behagen an Auftritte, die er undseine Schulkameraden, alle in Grün oder Schwarz gekleidet, alsCharleston-Tänzer zelebrierten oder an den Jazz-Rhythmus, mit dem erKlaviere bearbeitete (467). Das war nicht die Welt der Studienräte, undauch eine Gestalt wie der Schauspieler Willy Reichert, der damals dieFEORS besuchte, geriet mit seinem Talent, ein Massenpublikumanzusprechen (z.B. als Stuttgarter Faschingsprinz während der NS-Zeit(468)), nicht nach der Art des Hauses.
Die Sache der Studienräte war die auf die Schuljugend bezogeneZivilisationskritik, wie sie schon vor 1914 eingesetzt hatte, sich inden zwanziger Jahren entfaltete, dem Nationalsozialismus nützte undnach 1945 aufs neue erblühte. Der Erziehungsanspuch der Höheren Schulestieß an Grenzen, da mochte Hirsch, so oft er wollte, vor"Geringschätzung der Wissenschaft" warnen (469). Am besten kam dieSchule noch mit der "zunehmenden Sportswut" (Hirsch (470)) der Jugendzurecht, die nicht mehr dem turnerischen Patriotismus seligenAngedenkens, sondern der modernen Zivilisation zugeschlagen wurde, wieder Rechenschaftsbericht von 1930 zeigt: "Die Ausbildung ihrer Körpererscheint (den Schülern) wichtiger als die des Geistes". Der Sportwurde von der Schule vereinnahmt für das der 'Masse' gegenübergepflegte Gemeinschaftspathos. Das Tragen einheitlicher Sportkleidungkam bei schulischen Sportveranstaltungen auf (471). Eine Äußerlichkeitzunächst: Aber der Übergang, so erkennt man im Rückblick, von der'Gemeinschaft' freier Individuen, von der Schar zur Kolonne warfließend.
Ob Sports-, ob Tanzwut, ob Jazz, ob Materialismus - die Welt derSchüler kam nicht mehr zur Deckung mit den Erwartungen ihrer Lehrer,bei denen vielfach der Krieg körperliche und psychische Schädenhinterlassen und ihre Leistungskraft gemindert hatte. Ihre langenFehlzeiten in diesen Jahren - oft wegen Nervenleiden - hatten in ersterLinie damit zu tun.
Was aber am wichtigsten war: Hinsichtlich des Wertes der'Berechtigungen', die sie liefern sollte, war auf die Schule gegen Endeder Republik kein Verlaß mehr. Von 400 000 Abiturienten des Jahres 1932bekamen 200 000 einen Studienplatz; 'Berufsberatung' kam auf, vomMinisterium gefördert. Es ist eine bekannte Tatsache, daß dieseStatusunsicherheit einerseits, die kultische Aufwertung von 'Jugend'und die Beschwörung nationalen Aufbruchs andererseits Studenten undSchüler der NSDAP massenhaft zugetrieben haben. Die verfügbaren Quellen(472) zeigen, daß die FEORS hier gut im Trend lag. Die FEORS wie auchdie anderen Schulen vermittelten kein positives Bild der WeimarerDemokratie, und die dünkelhafte Larmoyanz einiger ihrer Lehrer halfauch nicht weiter.
Wie der Weg eines FEORS-Schülers in die NSDAP verlaufen konnte, zeigtein extremes, aber gerade darin plakatives Beispiel. Ein Absolvent derFEORS, der in Kiel studierte, war dort der Studentenverbindung"Wingolf" beigetreten, was die Verpflichtung zur Keuschheit in sichschloß. Seinem früheren Religionslehrer meldete er brieflich sexuelleProbleme. Dieser nun bestärkte ihn in seiner Auffassung "von dernationalen Bedeutung ... der Keuschheit". Was tat der Studentschließlich? Er trat in die NSDAP ein, weil er dort die ersehnte"Reinheit" zu finden hoffte, wie er schrieb. Die Partei werde in derAbwehr von "niederen Genüssen" noch "Enormes zu leisten haben" (473).Die NSDAP: Hier ein Auffangbecken für einen Halt suchenden jungen Mannmit politikfernen Wertmaßstäben.
Auch wenn sich dieser 'Ehemalige' von einem früheren - damals nochrecht jungen - Lehrer beraten ließ: 'Jugend' und '(Schul-)Bildung', indie zu Anfang der Republik so große Hoffnungen gesetzt wurden, hattensich voneinander entfernt. Zur Demokratie aber fanden weder Schülernoch Lehrer mehrheitlich ein positives Verhältnis.
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(4.2.) Nationalsozialismus und Krieg
(4.2.1.) Fächer und Unterricht: Nicht jeder Lehrer hat indoktriniert.
Die auffälligste Änderung, welche die Nationalsozialisten am System derHöheren Schulen vornahmen, war 1937 die Erhebung der "DeutschenOberschule" von 1926 zum Normaltyp, neben dem nur humanistischeGymnasien mit besonderer Tradition - in Stuttgart das Ebelu - bestehenbleiben durften; aus der FEORS wurde die FEOS. Der zweite größereEingriff bestand in der Reduzierung der Schulzeit auf zwölf Jahre: Die1935 wieder eingeführte Wehrpflicht und der Arbeitsdienst nahmen Zeitin Anspruch; außerdem machte sich nach dem "gewaltige(n) Aufschwung aufallen Gebieten des staatlichen und wirtschaftlichen Lebens" bereitswieder ein "akademische(s) Nachwuchsproblem" bemerkbar, nachdem nochvier Jahre zuvor mit einem Gesetz gegen die "Überfüllung" von HöherenSchulen und Hochschulen vorgegangen worden war (474).
Aber in seiner Grundstruktur blieb das Schulwesen so, wie esgewesen war, z.B. dreigliedrig trotz angestrebter totaler Integrationder Gesellschaft zur "Volksgemeinschaft". Es gab aber ja auch noch den'Führer-' und 'Auslesegedanken' und die Erfordernisse einer stark inAnspruch genommenen Industriegesellschaft. Das las sich dann so: " Derneue (!) Schulaufbau ist ... volksbiologisch ausgerichtet ... DerAufbau unserer Volksgemeinschaft zeigt klar eine Dreigliederung: eine... dünne Volksschicht übernimmt die Aufgabe der Planung und Führung... Eine zweite, mittelstarke Schicht hat die Aufgabe, die Umsetzungder leitenden Gedanken der Führer in die Praxis zu vermitteln ...,während die dritte, breite Schicht Hand ans Werk legt und die roheMaterie zum sinnvollen Ganzen formt" (475).
Auch die Vereinheitlichung der Höheren Schulen zur "DeutschenOberschule" stellte keinen besonderen NS-Weg dar, sondern folgte einerschon vorhandenen Tendenz: Die Höheren Schulen hatten sich seit Beginndes Jahrhunderts immer mehr ausdifferenziert in eine "für Betroffenenwie Beobachter ... verwirrende Schultypenvielfalt" (476), so daß diesein der Praxis - vor 1937 zählte man etwa 70 Typen (477) - schon in denzwanziger Jahren dadurch unterlaufen wurde, daß innerhalb derselbenAnstalt verschiedene Abschlüsse ermöglicht wurden. Bei stärkererVereinheitlichung auf Reichsebene - so zur Sprachenfolge Englisch -Latein (478) - wurden auch weiterhin in der "Deutschen Oberschule"verschiedene Abschlüsse angeboten, oftmals in Form einer Gabelung nachsprachlicher oder naturwissenschaftlicher Seite; die FEOS blieb ohneeine solche Gabel eine Oberrealschule dem alten Begriffe nach.
Daß der Nationalsozialismus sich des Bildungswesens mehr bedienteals es umzugestalten, zeigt sich auch auf der Ebene der Lehrpläne: Derbestehende Fächerkanon blieb erhalten, aber die Inhalte wurden neu"ausgerichtet", in Württemberg 1937. Das Land folgte dabei denRichtlinien des Reichserziehungsministeriums, das als zentraleInstitution 1934 geschaffen worden war. Bis dahin waren einzelneUnterrichtsinhalte auf dem Wege über Erlasse und einzelne Anordnungenverändert worden, stets begleitet von wichtigtuerischenVeröffentlichungen in der gleichgeschalteten Presse: Das diente demNachweis revolutionärer Tatkraft, trug aber auch zu Kontrolle undEinschüchterung von Schulen und Lehrern bei.
Zunächst verlangte Kultusminister Mergenthaler, "daß alleSchulvorstände und Lehrer ... die in den Lehrplänen (von 1928) gegebeneFreiheit nutzen, um ihren Unterricht und ihre Erziehungsarbeit mit demneuen Geiste zu erfüllen und die Gedankenwelt der nationalen Erhebungin den Geist und in die Herzen der Schüler zu pflanzen" (479) - derdeutschkundliche Lehrplan von 1928 bot beste Anknüpfungspunkte (s.o.).
Durch Erlaß wurde für die Monate Juni und Juli 1933 derlehrplangemäße Unterricht im Fach Geschichte unterbrochen und einbesonderer "Lehrgang" angeordnet, in dem den Schülern ausschließlich"die Bedeutung und Größe der nationalen Erhebung des deutschen Volkesund ihr geschichtliches Werden ... vor Augen zu stellen ..." war (480).Im Archiv der Schule ist ein undatiertes maschinenschriftlichesRedemanuskript für eine schulische Reichsgründungsfeier, allem Anscheinnach des Jahres 1934, abgelegt. Dieses Manuskript, dessen Verfasser mitgroßer Wahrscheinlichkeit unter den Geschichtslehrern der FEORS zusuchen ist, zeigt, wie dieser Erlaß befolgt wurde.
1871 schlossen sich die deutschen "Stämme" zusammen. Bismarck, der"Schmied des Reichs", führte das deutsche Volk "aus der Nacht derZersplitterung", indem er sich auf die "Traditionen derHohenstaufenkaiser" besann. Die "Stämme" sollten sich von nun an "denLebensraum und den Platz an der Sonne ... erkämpfen, auf den diegermanische Rasse ein Anrecht hat". Im Ersten Weltkrieg wurde das Werkdes "Titanen" Bismarck nicht nur "von außen" bedroht, sondern auch vonjenen, die Bismarck wohlweislich "als Reichsfeinde" bekämpfte. Und nunAdolf Hitler, der "Mann aus dem Volke": "Der Parteienstaat istzerstört, auf seinen Trümmern ist die neue Gemeinschaft des Volkesaufgerichtet ... Möge es ihm" - Hitler - "vergönnt sein, seine letztenZiele zu erreichen".
Hier sind die Versatzstücke zu besichtigen, die denGeschichtsunterricht an den deutschen Schulen zu bestimmen hatten: derRassegedanke ("Germanen"); die Lebensraumkonzeption; die Führer- undVolksgemeinschaftsideologie; die 'nationale Erhebung' nach dem1.Weltkrieg. Für den Inhalt der Geschichtsbücher gab es entsprechendeRichtlinien im Juli 1933 (481) (doch neue Lehrmittel frühesten seit1938! (482)). Als das Reich bereits wankte und von geregeltemUnterricht keine Rede mehr sein konnte, nämlich 1944, wurde den Lehrernnochmals eingeschärft, die Schüler wenigstens mit den Daten der'nationalen Erhebung' vertraut zu machen (483).
Für die Staatsbürgerkunde wurde im Mai 1933 verfügt, daß dieWeimarer Verfassung nicht mehr erörtert, ihr Text auch nicht mehr andie Abiturienten verteilt werden sollte. Weitere "Weisungen" würdendann folgen, "wenn das deutsche Verfassungsleben neu aufgebaut ist"(484) - man befand sich mitten in der Gleichschaltung. Ansonsten solltedas gelehrt werden, wozu sich unser Berichterstatter von 1930 bereitsbekannt hatte (s.o.).
Im Deutschunterricht sollte es laut Lehrplan von 1938 darum gehen,die "Jugend so zu festigen, daß sie sich ihres Deutschtums bewußt, daßsie selbstsicher, wehrhaft und tatbereit wird ... Nicht derbeschauliche, sondern der tätige Mensch ist das Ziel" - also nicht derBildungsbürger. Gefragt war erstmals auch "Schrifttum der Gegenwart ...in der Geistesrichtung des neuen Deutschlands ... Dabei ist von derDichtung zu fordern, daß sie Sinnbilder der nationalsozialistischenHaltung schafft (485). In der beigegebenen Literaturliste hielt sichfreilich viel Klassisches. Goethe war mit "Iphigenie" und dem "Faust"vertreten, Schiller mit "Wallenstein", aber natürlich fehlte Lessing("Nathan"!). Der Deutschlehrer Ignaz Weber ließ "mit der Auswahl seinerdargebotenen Gegenwartsliteratur ... Distanz" zur Partei ahnen, so einSchüler im Rückblick (486).
In die Biologie wurde 1933 ebenso rigoros eingegriffen wie in dasFach Geschichte. In den Stunden, die für "Naturgeschichte" vorgesehenwaren, mußten von September 1933 an "die wichtigsten Tatsachen derVererbungslehre, der Rassenkunde, der Rassenhygiene, der Familienkundeund der Bevölkerungspolitik ... nachdrücklich behandelt werden" (487).
Die Schule verfügte in Dr.Wilhelm Fischer ("Fischdoktor") in denJahren 1929 bis 1945 über einen sehr qualifizierten Biologielehrer, derin den fünfziger Jahren einen Lehrauftrag an der Technischen Hochschuleübernahm und Mitverfasser des Generationen von Schülern vertrautenBiologie-Unterrichtswerks "Schmeil" war; auch arbeitete er in derRedaktion des "Kosmos" mit. Fischer geriet unter Druck. Derkonservative Biologe (DNVP-Mitglied) trat 1933 in die NSDAP ein und waraus Sicht der Partei zunächst recht aktiv. 1936 wurde er zum Studienratbefördert. Dann zog sich Fischer weitgehend aus dem Parteileben zurück,und in seinem Spruchkammerverfahren wurde ihm bescheinigt, daß "er inseinen wissenschaftlichen Arbeiten und im Schulunterricht" - z.B. vordem Sohn des Gauleiters Murr - "einen der Partei entgegengesetztenStandpunkt" vertreten habe. Der "Schmeil" wurde aus dem Unterrichtentfernt, einem anderen Unterrichtswerk, an dem Fischer mitgearbeitethatte, 1938 die Genehmigung versagt (488).
Auch der Biologielehrer Dr.Paul Müller geriet in Bedrängnis. 1936wurde er zu einem rassenpolitischen Lehrgang in das Gauschulungslager"Jungborn" nach Nürtingen beordert und erhielt anschließend einenAusweis ausgehändigt, der ihn berechtigte, rassenpolitische Vorträge zuhalten. Er trat auch auf - allerdings, wie ihm beste Zeugenbescheinigten, indem er frühere, keineswegs rassistische Vorträge hielt(489).
Im Fach Sport wurde militärische Kommandosprache eingeführt: "ImGleichschritt - marsch!" (490). Die alten Soldaten unter denTurnlehrern kamen zum Zuge. Weltkriegsoffizier Weber: "Wer lernte derSA das Marschieren ...? Das machten ... die alten Soldaten!" (491). DasFach sollte natürlich auch zu Gemeinschaftsgeist, Führertum, Stolz aufdie eigene Rasse erziehen. Die Aufwertung des Faches - es wurde mitfünf Wochenstunden ausgestattet! - entsprach der bekannten AbneigungHitlers gegen Intellektualität: "Der völkische Staat hat ... seinegesamte Erziehungsarbeit in erster Linie ... auf das Heranzüchtengesunder Körper ... einzustellen" (492). Es war geplant, an jederHöheren Schule einen Sportlehrer zum stellvertretenden Schulleiter zumachen (493). Ohne ausreichende Sportnote konnte das Abitur nichtbestanden werden, bei Versetzungen spielte Sport einen erheblicheRolle. In einem Erlaß mit dem Titel "Körperliche Auslese der Schülerhöherer Schulen" wurde festgelegt, daß "dauerndes Versagen bei denLeibesübungen ... zur Verweisung" von der Schule führen könne (494).
Nicht einmal die Mathematik, das Paradefach der FEOS, wurde vonIndoktrination verschont. Hitler hatte in "Mein Kampf" eine Reduktiondes Unterrichtsstoffes an Höheren Schulen gefordert und dabei auch andie Mathematik gedacht (495). Führende NS-Erziehungswissenschaftler -E.Krieck, A.Bäumler, W.Hartnacke - machten sich Hitlers Überlegungen zueigen. Daher finden sich bei Hartnacke folgende Bemerkungen:"Mathematik und Physik, so wichtig und unerläßlich sie alsFachwissenschaften sind, sie sind jedenfalls in der Art, wie sie heutebetrieben werden, inhaltlich belanglos für den besonderen Wertgehaltdes deutschen Menschen" (496). 1936 dann nahm sich der DidaktikerTietjen des Faches an und traf die "Entscheidung zur Raumlehre", denn"die Kraft der Raumschau" sei "ein wesentliches Merkmal nordischenGeistes". Den kritische(n) Sinn und das rein logische Element" wiesTietjen "mehr den romanischen Völkern und der jüdischen Art" zu (497).Tietjen entwickelte nun für den schulischen Gebrauch eine sonderbareRaumlehre mit einem Überhang an militärischen Anwendungsmöglichkeiten(z.B. das "Richtungskreuz" für "Übungen im Gelände"). ÄhnlicheDarlegungen fanden sich bei dem Didaktiker Drenckhahn (498).
Dies alles muß man wissen, um zwei Aufsätze richtig lesen zukönnen, die Dr.Weitbrecht, Schulleiter der FEOS und Mathematiker, sowieKurt Fladt, 1926 bis 33 an der FEOS und "Altmeister derSchulmathematik" (499), im Jahr 1937 veröffentlichten. Sie erschienenin einer "Erinnerungs-Schrift an das 50jährige Bestehen" des 1884 vonDr. Böklen, ebenfalls Realanstalt, gegründeten"Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Vereins in Württemberg", der 1937aufgelöst und in das Reichssachgebiet "Mathematik undNaturwissenschaften" im NSLB (= Nationalsozialistischer Lehrerbund )eingegliedert wurde (500).
Fladt sagte im Geleitwort pflichtschuldig, daß der Verein seine"geschichtliche Aufgabe erfüllt" habe, betonte dann jedoch, daß "echteWissenschaft in der Erziehung unserer Jugend zu deutschen Menschen auchkünftig nicht entbehrt werden" könne. Dr.Weitbrecht beschäftigte sichin seinem Beitrag mit der Analysis und wandte sich gegen die"Forderung", daß wegen ihrer Unanschaulichkeit die Schule "lieber ganzauf die höhere Mathematik verzichten" solle. Weitbrecht plädierte nundafür, den "jungen Volksgenossen" das "Rechnen mit Grenzwerten" nicht"vorzuenthalten", zumal zur "Schöpfung" des Grenzbegriffs in derAlgebra "nur germanische Wesensart befähigt" gewesen sei. Weitbrechtging es darum, anspruchsvollen Mathematikunterricht unter denBedingungen der NS-Schulpolitik zu retten. Er bediente sich der SpracheTietjens und Hartnackes, der nicht nur die "germanische Wesensart"zuzuschlagen ist, sondern auch die Betonung des 'Grenzbegriffs', dersich in das Vokabular von "Schau", "Richtung", "Raum" fügt.
Tatsächlich verlangten die Mathematik-Lehrpläne auch weiterhinfundierte Kenntnisse (501), damit es dem "nordischen Geist" ermöglichtwurde, "in innerer Anschauung" - da war sie, die Zauberformel! -"geborenen Formenreichtum" nicht nur mit dem Auge, sondern auch "mitdem grübelnden Verstande" zu erobern (502).
Viel zu leiden hatte das Fach Religion. 1937 zogen sich mancheLehrer aus dem Fach zurück, da der NSLB das Erteilen vonReligionsunterricht als Zeichen politischer Unzuverlässigkeit zubetrachten begann. Sein Versuch, im Windschatten der Reichspogromnachtim November 1938 den Religionsunterricht "spontan" niederlegen zulassen ("Verherrlichung des jüdischen Verbrechervolkes"), scheiterteallerdings. Nur Württemberg wollte den Religionsunterricht völligabschaffen und an seine Stelle "Weltanschauungsunterricht" setzen;Eltern wurden unter Druck gesetzt (Entzug von Erziehungsbeihilfenz.B.). Es ist bekannt, daß Mergenthalers Vorstoß am Widerstand desLandesbischofs Wurm scheiterte. Die evangelische Kirche schloß Schüler,die den Weltanschauungsunterricht freiwillig besuchten, von derKonfirmation aus (503).
Nun unterrichtete an der FEOS von 1928 bis 1937 der StudienratReinhold Sautter, eigentlich ein Pfarrer, evangelische Religion undauch Deutsch. Er hatte sich schon 1933 nationalsozialistischer Angriffezu erwehren, weil er um die Zeit der Machtergreifung mit Schülern einerzehnten Klasse einen vom "Evangelischen Volksbund" veranstaltetenVortragsabend in der Liederhalle besucht hatte. Ein Elternpaar verbotseinem Sohn die Teilnahme mit der Begründung, daß sie "alsNationalsozialisten die Stellungnahme oder besser nicht Stellungnahme(sic!) des EV. Volksbunds gegenüber brennenden politischen Tagesfragender letzten Jahre nicht billigen und teilen konnten." Und die Elternbaten Sautter auch, im Unterricht "den vorgeschriebenen Stoff" undnicht seine "politischen Privatanschauungen zu behandeln". Der Briefträgt das Datum 3.Februar 1933.
Sautter antwortete einen Tag später freundlich und ausführlich."Erst vor wenigen Tagen" habe ihm eine Klasse, der er gesagt hatte, daßer im Unterricht für politische Fragen "keine Zeit" habe, "erklärt: wirkönnen sonst niemand fragen und niemand gibt uns Antwort." Zuletzt abersicherte er zu, daß er sich in der betreffenden Klasse nur noch "an denStoff halten" werde, nicht freilich wegen der Briefschreiber, sondern"weil einige Schüler ... sich ... an der weiteren Aussprache in einemTon zu beteiligen pflegen, der durchaus dem Unterricht nicht angepaßtist" (504).
Sautter verließ die FEOS 1937, weil er als Sachverständiger fürden Religionsunterricht in den Oberkirchenrat berufen und dazu auch vomKultminister bestellt worden war (505). Aber schon Mitte 1937 hinderteihn dieser an der Ausübung seines Amtes und übertrug die Aufsicht überden Religionsunterricht allein seinem Ministerium. Im August 1939verlor Sautter auch offiziell sein Amt wegen seiner "landauf landabgehaltenen hetzerischen und verleumderischen Reden und Vorträge" (506).In der Tat hatte Sautter im Frühjahr 1939 achtmal in StuttgarterGemeinden gegen den Weltanschauungsunterricht gesprochen und wurdedabei jeweils vom SD bespitzelt, der über Sautters Auftreten in derStiftskirche am 16.Mai 1939 folgendes berichtete: "Die Stiftskirche warüberfüllt. Die Menge wurde durch die Rede Sautters sehr erregt, so daßnach der Versammlung die Teilnehmer in Gruppen auf der Straße ihrerEmpörung" - über den Weltanschauungsunterricht - "Ausdruck verliehen"(507).
Oberkirchenrat Sautter, der sich auch gegen die Euthanasie wandte(508), wurde im August 1944 verhaftet und ins KZ Welzheim gebracht, woer bis zum 4.April 1945 gefangen gehalten wurde.
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(4.2.2.) Schulleben: "Ist SA - Mann. Keine Hemmungen."
Nicht nur auf der Ebene des Fachunterrichts, sondern auch fürdas Schulleben im ganzen bildeten Erlasse, ob vom gleichgeschaltetenLand oder vom Reich ausgehend, das rechtliche Einfallstor desNationalsozialismus in die Schule. Es wurde dabei ganze Arbeitgeleistet. Das Ministerium konnte anfangs der stürmischen Entwicklunggar nicht schnell genug folgen. So wurde in seinem Amtsblatt noch am20.Februar 1933 den Lehrern eingeschärft: "Jede parteipolitischeBeeinflussung ist verboten". Dann freilich sprudelte dieselbe Quelleüber von parteipolitischen Anweisungen, zunächst auch unter demAnschein allgemeiner Liberalisierung.
Den Schülern wurde am 25.April 1933 gestattet, zur "Förderung ...des richtigen Gemeinschaftsgeistes" in "Jugendgruppen der nationalenVerbände" einzutreten, nach Vollendung des 18.Lebensjahres"ausnahmsweise auch in die SA". Wie eine erhalten gebliebeneAbiturientenliste von 1935 zeigt, machten in einer Klasse 9 nichtweniger als 7 Schüler von 19 von diesem Angebot Gebrauch; zwei gehörtenauch der SS an (509).
Vom Mai 1933 an bevorzugte Mergenthaler den Befehlston. Laut Erlaßvom 10. dieses Monats waren aus den Schülerbüchereien "... Bücher, dievom nationalen, völkischen und sozialen Standpunkt aus nicht ganzeinwandfrei sind, ... zu entfernen". Am selben Tag wurden in den großenStädten Bücher mißliebiger Autoren den Flammen übergeben.
Am 24.Juli 1933 ordnete Mergenthaler den Hitlergruß an und listeteals alter Schulmann vorsorglich die Fälle auf, in denen er geleistetwerden mußte: vor und nach dem Unterricht, wenn während der StundeErwachsene das Zimmer betraten oder Schüler im Hause ihren Lehrernbegegneten. Es wurde für ein ständiges Armheben gesorgt. Am 6.Septembergelang eine erste Beschreibung des Verhältnisses von Schule undHitlerjugend (es folgten noch mehrere): "Die HJ nimmt die Schülerzweimal wöchentlich und an nicht mehr als zwei Samstagen im Monat inAnspruch". Am 18.November, einem Samstag, wurde in der letzten Stundeein "Fest der deutschen Schule im Ausland" gefeiert. Den Schulleiternwurde eingeschärft, Schulveranstaltungen nicht auf Zeiten zu legen, zudenen Hitler im Rundfunk zu hören war (510). Andererseits wurde esSchülern verboten, sich mit "Bittschriften" an den "HerrnReichskanzler" zu wenden, das sei "ungehörig" (511).
Am 24.Januar 1934 wurde das Tragen von HJ- und SA-Uniform in derSchule gestattet, allerdings knapp drei Monate später wieder verboten,weil sich "verschiedene Mißstände" ergeben hätten, namentlich durch dasMitbringen der zur Uniform gehörenden "Fahrtenmesser" (512). Verbotenwurden natürlich auch die Uniformen anderer Jugendorganisationen, aberals "Brauch der Systemzeit" auch Klassenwimpel, denn: "Heute folgt diegesamte Jugend der Hakenkreuzfahne" (513).
Seit dem 14.Januar 1934 mußten an Tagen mit Beflaggung - und das wurdenimmer mehr - die Fahnen vor dem Unterricht "in Anwesenheit der Lehrerund Schüler feierlich" gehißt werden; bei "besonders festlichenAnlässen" war eine kurze "Ansprache" zu halten; wenn möglich, solltedas "Einholen der Flaggen bei Dämmerung" wieder in Gegenwart vonLehrern und Schülern geschehen (514). Seit 1938 gab es einen"Wochenspruch der NSDAP" (515); an die Stelle von Gottesdiensten traten"Morgenfeiern" (516).
Zentralisiert, kontrolliert und eingeschränkt wurde derSchülerbriefwechsel mit dem Ausland (517). Zu Reisen ins Auslanddurften nur solche Schüler "ausgelesen" werden, welche "die Reifebesitzen, ein ... fremdes Volkstum kritisch zu betrachten (518).
Ein moderner Weg der Beeinflussung der Schüler führte über denFilm. Seit seinem Aufkommen von den Pädagogen mißtrauisch beäugt, zoger jetzt in die Schulen ein. Die pädagogische Nachhutgefechte führendeKultusbehörde hatte dem "Hitlerjungen Quex", weil er ein Spielfilm war,zunächst den Einzug in die Schulen verwehrt, doch bald brach ihrWiderstand zusammen (519). 1935 legte die Reichspropagandaleitung fest,welche Filme gezeigt werden durften, sollten und mußten (520).
Eine typische Form nationalsozialistischer Manipulation der Jugendwar die Lagererziehung, die Impulse aus der Jugendbewegung aufgriff undmilitarisierte. Betroffen davon war die aus der Reformpädagogikhervorgegangenen Schullandheimbewegung, die in Württemberg erst 1928Fuß gefaßt hatte (521). Das Schullandheim sollte der "Eingliederung derdeutschen Jugend in Heimat, Volk und Staat durch Weckung und politischzielbewußte Pflege der gesunden rassischen Kräfte" (522) dienen.Folgende Merkmale entwickelten sich in der Praxis: ländliche Umgebung,Märsche, Geländespiele, Aufenthalt auf Bauernhöfen ("Blut und Boden").Mancher Schüler der Nachkriegszeit erkennt hier Merkmale seinesLandheimaufenthalts, herausgelöst aus der NS-Ideologie. Bei der HJwaren die Landheime nicht gern gesehen: Sie witterte unliebsameKonkurrenz (523).
Insgesamt gilt: Die Rolle des Lehrers und der schulischenErziehung wurde neu bestimmt. Hans Schemm, der Führer des NSLB, sagteam zweiten Gautag der schwäbischen Erzieher im Jahre 1934: "JederLehrer, der in die Schule geht, muß wissen, daß er Politik zu treibenhat. Wir sagen: Herein mit der Politik in die Schule, weil es nur nocheine deutsche Politik gibt, und das ist die deutsche Erziehung" (524).Dabei wurde mit dem Negativbild des "beamteten Kenntnisvermittlers"(525) eine populäre Formel aus spätem Kaiserreich und Jugendbewegungaufgegriffen. Die Berufsbezeichnung "Lehrer" schien andererseits zuneutral: "Es liegt eine tiefer Sinn darin", so sprach ReichsstatthalterGauleiter Murr, "wenn der nationalsozialistische Staat weniger vomdeutschen Lehrer als vom deutschen Erzieher spricht. Erziehen ist mehrals Lehren" (526). Und er betonte, daß es um den "Charakter" derdeutschen Jugend gehe - ein Begriff, der jetzt immer wieder auftauchtund Wissen und Intellekt an hintere Stellen verweist.
Faktisch aber wurde die Schule in der Erziehung zurückgedrängt.Symptomatisch dafür ist der einleitende Satz der Verordnung über denStaatsjugendtag (527): "Für die Erziehung der Schuljugend imnationalsozialistischen Staate sind Schule, Reichsjugendführung(HJ-Bewegung) und Elternhaus nebeneinander berufen". "Staatsjugendtag"war der Samstag einer jeden Woche, in Württemberg fand er erstmals am8.Sept. 1934 statt (528). Das "Jungvolk" - d.h. Schüler bis zur8.Klasse - konnte im Sommer von 7 bis 19 Uhr, im Winter von 8 bis 18Uhr zu dieser "Erziehungsarbeit der Reichsjugendführung (HJ-Bewegung)"herangezogen werden und hatte daher schulfrei. Schüler, die dem"Jungvolk" nicht beitraten, hatten am Samstag vier Stunden Unterricht,davon mindestens zwei Stunden über das NS-"Gedankengut"; nachmittagswurde gespielt oder gewandert. Der bisherige Samstagunterricht sollteauf die restlichen Wochentage verteilt werden; gelang dies nicht,konnten "Anträge auf Kürzung des wissenschaftlichen Unterrichts"genehmigt werden, allerdings keinesfalls in den 'Gesinnungsfächern'Deutsch und Geschichte (529). Jene Schüler von Klasse 9 an aufwärts,die sich am Staatsjugendtag als "Führer" betätigten und daherUnterricht versäumten, waren bei der Versetzung "wohlwollend" zubehandeln (530). Pflichtschuldigst meldete Dr.Weitbrecht, wie gut sichder Staatsjugendtag an der FEORS angelassen habe (531).
Allerdings wurde er 1937 wieder abgeschafft, was zeitlich mit derEntdeckung zusammenfiel, daß Nachwuchs in qualifizierten Berufendringend benötigt wurde (Vierjahresplan; Aufrüstung). Auch zeigte sichdie HJ als Veranstalter des Staatsjugendtags eher unfähig: IhremGrundsatz "Jugend führt Jugend" (Baldur v.Schirach) entsprach nichtimmer organisatorisches Geschick, und intellektuell bot sie wenig(532). Von 1937 an wurde auch die wohlwollende Behandlung von Schülernmit HJ-Aktivität wieder eingestellt: Zu oft hatte sich solcheGeschäftigkeit als Tarnung für Desinteresse am Unterricht erwiesen, wasdem Ruf der HJ nicht gut bekam. Dr.Müller berichtet von einem Schüler,der bar jeder Kenntnisse in SS-Uniform zum Unterricht erschien, umdiesen durch Flegeleien anhaltend zu stören (533).
Man wird davon ausgehen müssen, daß der Kontinuität des Lernensder leere Daueraktivismus, die Vielzahl von Sonderveranstaltungen, auchdie Gewöhnung an Außenlenkung durch Befehl schadeten. Es erstaunt dahernicht, daß viele Lehrer, wie immer sie sonst zur Partei stehen mochten,zur HJ kein herzliches Verhältnis fanden (534). An den Schulen gab esseit 1934 einen "Vertrauenslehrer", der die Zusammenarbeit zwischen ihrund der HJ "fördern" sollte. Zuständig für seine Auswahl war der"Bannführer" der HJ, nicht der Schulleiter. Er war "Mittelsmann"zwischen diesem und der HJ, wobei die "Stellung" des Schulleiters "alsverantwortlicher Leiter der Schule" unberührt blieb (535) - wasoffenbar eigens erwähnt werden mußte. Ende 1936 waren an den HöherenSchulen Württembergs bereits 97,3% der Schüler in der HJ organisiert,natürlich nicht mehr freiwillig (536).
NS-Aktivitäten haben bei der Beurteilung von Schülern eine Rollegespielt. So mußte für jeden Abiturienten ein Gutachten erstellt werdenmit einem Persönlichkeitsprofil, das u.a. die Brauchbarkeit desSchülers für den Nationalsozialismus erweisen sollte. 18 Punkte warenvom Beurteiler, dem Klassenlehrer, zu berücksichtigen, darunter auch:bemerkenswerte Leistungen in Turnen und Sport; im Gemeinschaftslebender Schule; Stellung unter den Klassenkameraden; Arbeit in Verbänden(HJ und SA); innere und äußere Hemmungen; soziale Lage desElternhauses; Gesundheitszustand; Erbgut.
Von Reinhold Sautter, dem Parteigegner, sind einigeBeurteilungsentwürfe erhalten. Folgende Bemerkungen finden sich: "Einstiller Kamerad ohne Einfluß auf die anderen." - "In einem geordnetenElternhaus aufgewachsen und gut erzogen. Gesund." - "Erbgut: Vaterruhig und überlegen; Mutter lebhaft und besorgt." - "HJ. Die Mutter hatsich mit einer kleinen Pension redlich durchgeschlagen." - "In derKlasse hat er wenig Ansehen. Daß gerade er SS-Mann wurde, war jedemerstaunlich." - "Ist Mitglied der HJ. Sozial anscheinend gut gestellt."- "Sein Vater ein begeisterter Soldat und alter Kämpfer. Hat ihn strengerzogen. In HJ Kameradschaftsführer." - "Ist SA-Mann. Keine Hemmungen."(537)
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(4.2.3.) Das Schicksal von Juden an der FEOS
Jüdische Schüler wurden durch Erlasse von 1933 an Schritt fürSchritt aus dem Schulleben gedrängt, bis sie nach der Reichspogromnachtim November 1938 endgültig von den Schulen gewiesen wurden.
Damit das Publikum der Höheren Schulen für die Diskriminierunggewonnen werden konnte, wurde suggeriert, daß die'Abiturienten-Schwemme' in den Jahren der Weltwirtschaftskrise mit derrelativ hohen Zahl von Juden an Gymnasien zu tun habe - die Suche nachdem Sündenbock. Dieser Anteil betrug 2,5%, der Anteil der jüdischenMinderheit an der Gesamtbevölkerung lag bei 0,76% (538). Im "Gesetzgegen Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen" (539) wurde imApril 1933 bestimmt, daß der Anteil der jüdischen Schüler an einerHöheren Schule bei Neuaufnahmen 1,5% nicht übersteigen dürfe. Dabei gabes Ausnahmen: So wurden z.B. Kinder von jüdischen Frontkämpfern aus demErsten Weltkrieg nicht mitgezählt. Das milderte zwar die Auswirkungendes Gesetzes erheblich, aber in Orten mit hohem jüdischenBevölkerungsanteil wirkte das Gesetz hart. Ob es die Anmeldungen an derFEORS beeinflußt hat, ist nicht mehr zu klären.
Folgende Bestimmungen diskriminierten jüdische Schüler: Verbot desisraelitischen Religionsunterrichts (1934); keine Teilnahme amStaatsjugendtag (1934); Ausschluß von Schullandheimaufenthalten (1935);Ausschluß von einzelnen Schulstunden, wenn die "Erziehung zunationalsozialistischer Weltanschauung" durch Anwesenheit jüdischerSchüler "gehemmt" erschien (1935); Ausschluß von allenaußerunterrichtlichen Veranstaltungen (1937) (540). Die Ausweisung dernoch übrig gebliebenen jüdischen Schüler begründeteReichserziehungsminister Rust im November 1938 so: "Nach der ruchlosenMordtat von Paris" - an dem Legationssekretär v.Rath durch einenjüdischen Täter - "kann es keinem deutschen Lehrer und keiner deutschenLehrerin mehr zugemutet werden, an jüdische Schulkinder Unterricht zuerteilen" (541).
Übergriffe verbaler und auch gewalttätiger Art auf jüdischeSchüler waren schon kurz nach der Machtergreifung vorgekommen. Am Ebeludrangsalierten nationalsozialistisch eingestellte Schüler 1933 dreijüdische Klassenkameraden; nicht die Täter, sondern die Opfer wurden"zur Entgiftung der politischen Atmosphäre an der Anstalt" von derSchule gewiesen. Allerdings entschuldigte sich das Kultministeriumanschließend bei deren Eltern und stellte ihnen frei, ihre Söhne aufeine andere Stuttgarter Schule zu schicken (542).
Dieses moderate Verhalten erklärt sich aus dem Bestreben derNSDAP, den von ihr entfachten 'Volkszorn' wieder unter Kontrolle zubringen, nachdem sie sich des Staates bemächtigt hatte. Daher verbotz.B. das Badische Kultministerium "feige Angriffe auf wehrloseeinzelne" jüdische Schüler. Solches Verhalten sei "weder christlichnoch national", vielmehr könne "die Bekämpfung der Auswüchse desJudentums ... nur in gut organisierter und wohldisziplinierter Weisenach den von den verantwortlichen Stellen gegebenen Anordnungen geführtwerden" (543).
Da alle Unterlagen des FEG im Krieg verbrannt sind, kann vomSchicksal seiner jüdischen Schüler nur ein unvollständiges Bildgewonnen werden. Namenslisten aus dem erhaltenen, von 1929 bis 1937reichenden Notenbuch des Studienrats Sautter erbringen im Vergleich mitden Listen jüdischer Bürger im Archiv der Stadt Stuttgart und weiterendort befindlichen Unterlagen einige Ergebnisse. Über Briefe Sauttersführt ein Weg auch zu dem jüdischen Lehrer, der 1933 an der FEORSisraelitischen Religionsunterricht erteilt hat.
Sein Name war Leo Adler, er wurde 1884 in Braunsbach geboren, undvon 1908 bis 1938 wirkte er an der Israelitischen Gemeinde Stuttgartsals Kantor. In mehreren Veröffentlichungen hat er sich mitAngelegenheiten dieser Gemeinde befaßt.
1933 wurde ihm verboten, sich im Lehrerzimmer der FEORSaufzuhalten. Kollege Sautter solidarisierte sich mit ihm und verzehrtevon nun an sein Pausenbrot mit Adler auf dem Flur (544). Sautter, derauch angehende Pfarrer unterrichtete, besichtigte 1933 mit diesendemonstrativ die Synagoge (545). Er stammte übrigens aus Buttenhausen,jener für ihren hohen jüdischen Bevölkerungsanteil bekannt gebliebenenGemeinde, und hatte sich bereits in den zwanziger Jahren gegenAnfeindungen zur Wehr setzen müssen, weil er der einzigenStudentenverbindung angehörte, die Juden zuließ (546). Auch von Dr.MaxHäussler, dem Altphilologen und Historiker, ist mutiges Verhaltenbekannt. Am Morgen nach der Reichspogromnacht ließ er seine Klasseaufstehen und zitierte: "... es ist nur ein Wölkchen, das vorüberzieht,lasset uns ein wenig beiseitetreten." (547). Das war nichtverharmlosend gemeint.
Adler kam an diesem Morgen gerade zur rechten Zeit, um dieZerstörung der Synagoge miterleben zu müssen. Sein Augenzeugenberichtwurde veröffentlicht (548). Adler wurde verhaftet und ins KZ Dachaugebracht, nach vier Wochen jedoch entlassen, weil er am ErstenWeltkrieg teilgenommen hatte. Nun stellte er einen Ausreiseantrag. Daswar sein Glück, denn als er ein Jahr später nach dem Elser-Attentat aufHitler erneut ins KZ kam, diesmal nach Welzheim, holte ihn dort einAngehöriger der amerikanischen Botschaft mit einem Visum heraus.
Durch Zufall kam 1960 wieder - briefliche - Verbindung zwischenSautter und Adler zustande. Auf ein Treffen mit ehemaligen FEOS-Lehrern anspielend, schrieb Sautter: "... Sie sind unter uns nochnicht vergessen". Dieses "uns" war durch einige Namen ergänzt, dieAdler in seiner Antwort überging. Er hatte da ein ganz sicheres Gefühl.Unter den genannten Herren befand sich einer, der sich in seinemSpruchkammerverfahren auf regen Umgang mit Adler berufen hat, um sichzu entlasten. Dafür gibt es nicht den geringsten Anhaltspunkt. Adlerhat die drei deutschen Personen genannt, mit denen er bis zuletztKontakt hatte. Darunter befand sich kein Lehrer der FEOS (549).
In jenem schon öfter genannten Englisch-, Geschichts- undDeutschlehrer, dem 'Berichterstatter' von 1930, verfügte die Schuleüber einen Antisemiten. Er habe, so steht in seinemRechenschaftsbericht, den Schülern stets eingeprägt, daß "dieinternationalen Kreise in Staat und Gesellschaft" - eine üblicheBezeichnung für Juden und auch Marxisten - "bekämpft werden müssen." Ander Stelle des Berichts, an der es um den Arbeitsunterricht ging,bemerkte er, daß er zu einem vom Lehrplan vorgeschriebenen"Streitgespräch" nur zwei Schüler veranlassen konnte: "...bezeichnenderweise war es ein Jude und der Sohn eines ...Gewerkschaftsführers" (550). Das war kein Lob.
Der jüdische Schüler Hermann Stettiner machte im Jahr diesesRechenschaftsberichts an der FEORS Abitur, wurde Dipl. Volkswirt,wohnte in der Rotebühlstraße und wurde 1942 nach Auschwitz deportiert(551). Leo Friedrich, Abitur wohl 1932, mußte 1937 sein Medizinstudiumabbrechen und emigrierte in die USA (552).
Kurt Reilinger, der im Schuljahr 1932/33 in die neunte Klasse gingund als Klassenprimus einen Preis bekam, wurde von der Entfesselung desZweiten Weltkriegs im holländischen 'Werkdorp' überrascht, wo er sichzusammen mit anderen jungen Juden durch Landarbeit auf die Auswanderungnach Palästina vorbereitete. Die jungen Männer hielten sich zunächstbei holländischen Bauern verborgen, schmuggelten sich dann aber alsangebliche holländische Fremdarbeiter nach Frankreich hinein, dasbereits besetzt war. Es gelang ihnen, sich durch Fälschung deutschePapiere zu verschaffen. Reilinger trat von nun an in Uniform alsdeutscher Besatzer auf, wobei ihm "Ruhe, Sicherheit und schwäbischeRauhbatzigkeit" zustatten kamen. 1940 besaß er die Nerven, seine Mutterin Stuttgart zu besuchen. Er schleuste viele seiner Kameraden über diespanische Grenze und war Verbindungsmann zwischen den anderenMitgliedern der Gruppe, die sich in Paris oder am Atlantikwallverborgen hielten. Erst 1944 wurde er von der Gestapo festgenommen.Vermutlich hat ihm die Invasion damals das Leben gerettet. Er wurde insKZ Oranienburg gebracht und hatte insofern Glück, als er einer Kolonne,die Eisenbahnschienen zu reparieren hatte, angehörte. Diese Juden ließHimmler kurz vor Kriegsende nach Schweden ausreisen, weil er hoffte,durch solche Aktionen sein Leben retten zu können. Als Reilinger mitGlück, Wagemut, Tüchtigkeit und Selbstlosigkeit den Krieg überstandenhatte, wurde er Opfer eines Verkehrsunfalls in Amsterdam, wo erbegraben liegt (553).
Helmut Kauffmann machte 1935 als Jahrgangsbester Abitur. ImEntwurf seiner persönlichen Beurteilung steht, daß er "der begabtesteund reichste Kopf der Klasse, ... seit Klasse 1 immer der erste war."Als Sohn einer armen Mutter - sie war alleinerziehend - habe er nie"Vakanzfreuden" erlebt. Als "Nichtarier" habe er in den letzten JahrenSchweres zu ertragen gehabt, nicht durch "Lehrer und Mitschüler", aberdurch die "allgemeine Diskussion". Daß die Schüler freilich gegenAntisemitismus nicht immun waren, zeigt ein Zettel, den KauffmannsLehrer aufbewahrt hat. Darauf fragt ein Schüler: "Warum hält man in derSchule Religionsunterricht und verlangt, daß der Schüler sich Sacheneinpaukt, die er gar nicht glauben kann, weil er im Christentum keineGenugtuung findet? Weil er im ganzen Christentum die jüdischeÜberheblichkeit des Stifters dieser Religion sieht ...". Kaum brauchtnoch erwähnt zu werden, daß der Lehrer, der dieses Gutachten überKauffmann schrieb und diesen Zettel aufbewahrte, Reinhold Sautter hieß.Im Gutachten vermerkt er noch lapidar, daß Kauffmann eigentlich gern"Sprachen und Geschichte" studiert hätte (554). Aus Quellen imStadtarchiv geht hervor, daß Sautter Kauffmann zu schleunigerAuswanderung geraten hat. Diese kam trotz der Armut der Mutterzustande. Frau Kauffmann aber blieb und wurde 1941 nach Riga deportiert(555). Helmut Kauffmann erschien 1946 nochmals in Stuttgart alsamerikanischer Oberleutnant.
Sehr vielen jungen jüdischen Gymnasiasten gelang die rechtzeitigeAuswanderung, weil sie oft aus Familien kamen, die das Geld aufbringenkonnten (556); die Eltern ärmerer jüdischer Schüler blieben - wie FrauMeta Kauffmann - häufig hier.
Zur Zeit des Ausweisungserlasses im November 1938 gab es zumindestnoch einen jüdischen Schüler an der FEOS. Um diesen hat sich am Tagseiner Relegation eine widerwärtige Geschichte abgespielt. DerPhysiklehrer Clauss, zwar Pg, aber als gutmütig bekannt, ließ diesenSchüler noch eine Stunde lang am Unterricht teilnehmen, worauf sich derSohn des Reichsstatthalters Gauleiter Murr, Schüler der betreffendenKlasse, vor Clauss aufbaute und brüllend wissen wollte, was der"Judenbube" hier noch verloren habe (557).
Der letzte jüdische Schüler an einer Höheren Jungenschule inStuttgart besuchte diese übrigens noch 1939: Das geschah am heutigenWirtemberg-Gymmnasium Untertürkheim, das damals von dem späterenFEG-Lehrer Kloth geleitet wurde und wo auch bis zum Ende des KriegesReligion unterrichtet werden konnte. Kloth hatte sich alsNationalsozialist betätigt, um seine Schule, wie die Quellen nahelegen,besser vor dem Zugriff der NSDAP schützen zu können (558).
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(4.2.4.) Die Lehrer: Zwischen Linientreue, Opportunismus und Resistenz
Seit dem 23.Dezember 1933 galt in den Lehrerkollegien dasFührerprinzip. Der Lehrerrat war nur noch eine "beratendeKörperschaft". In der Verordnung hieß es lapidar: "Abstimmungen findennicht statt; Beschlüsse werden nicht gefaßt" (559). Im Kaiserreichhatte das Kollegium weit mehr Rechte gehabt (560), in den WeimarerJahren ohnehin. Der Schulleiter war als "Führer" aber "für dennationalsozialistischen Geist und die Leistungen seiner Schuleverantwortlich" (561). Dieser Konstruktion wurden auch die Elterneingefügt. Elternbeiräte - sie gab es seit 1919 - wurden aufgelöst. DerSchulleiter bestimmte an ihrer Stelle aus der Elternschaft sog."Schuljugendwalter", die politisch zuverlässig sein mußten; sie durftenihn beraten (562).
Die Schnittmenge der Übereinstimmungen der Studienräte mit demNationalsozialismus war größer als die mit der Demokratie - davon istauch für die Verhältnisse an der FEORS auszugehen; die bisher zitiertenLehrer sind Beleg genug. Der Philologenverband sträubte sich zwar rechtlange, sich im NSLB gleichschalten zu lassen - jedoch nicht ausideologischen Differenzen, sondern weil der NSLB Lehrer allerSchularten einheitlich unter Führung eines Volksschullehrers (HansSchemm) zusammenfaßte (563); das widersprach dem Standesbewußtsein derStudienräte. Ihre Verbandspresse begeisterte sich für denAuslesegedanken: "Die höhere Schule soll rücksichtslos alle diejenigenabschieben, die minderwertig sind ... so ermöglicht sie den Tüchtigenein hemmungsloses Arbeiten ... Auch hier gilt Hindenburgs Wort: Dierücksichtsloseste Kriegsführung ist die barmherzigste, denn sieverkürzt den Krieg" (564).
Der NSLB erfaßte 97% der deutschen Lehrer (565); an der FEOS tratnur der Philologe Ignaz Weber nicht bei (566). Von den Entlassungen, zudenen es 1933 kam, war kein FEORS-Lehrer betroffen. Wohl aber wurde1933 der Oberstudiendirektor Schnapper, ursprünglich protestantischerTheologe, dann Neuphilologe, unter Zurückstufung an die FEORSstrafversetzt. Schnapper war Leiter der Heidenheimer Oberrealschulegewesen und wurde als Schriftführer des Kreisverbandes der DDP, der erauch war, Opfer eines Kesseltreibens der NSDAP, das in seinerPersonalakte dokumentiert ist (567).
Das juristische Instrument für derartige Bestrafungen undEntlassungen war das Gesetz zur "Wiederherstellung desBerufsbeamtentums" vom 7.April 1933, nach dessen § 4 gegen Beamtevorgegangen werden konnte, "die nach ihrer bisherigen politischenTätigkeit nicht die Gewähr dafür bieten, daß sie rückhaltlos für dennationalen Staat eintreten" (568). Angesichts der trostlosenWirtschaftslage und der "Überfüllung" des Lehrerberufs muß das Maß anEinschüchterung, das von diesem Gesetz ausging, sehr hoch veranschlagtwerden. Überdies mußte jeder Lehrer - wie alle Beamten - einenumfangreichen Fragebogen ausfüllen, in dem u.a. nach frühererMitgliedschaft und Tätigkeit in politischen Parteien oder demReichsbanner Schwarz-Rot-Gold und anderen demokratischen odersozialistischen Vereinigungen gefragt wurde; natürlich war auch die"arische" Abstammung nachzuweisen, und obligatorisch war der Eid aufHitler.
Für den durchschnittlichen Lehrer waren besondere Treuebekundungenzum Regime über bloße Mitgliedschaft im NSLB hinaus wohl fast nicht zuumgehen. Daher war fast jeder FEORS-Lehrer dieser Jahre in einerweiteren NS-Gruppierung anzutreffen, häufig im NSV (=Nationalsozialistische Volkswohlfahrt) als Ausweis sozialer Gesinnung.Der NSLB legte sich ein "Ehrengericht" zu, das gegen mißliebigeMitglieder den Ausschluß verfügen konnte, was u.U. zu wirtschaftlichenNachteilen (z.B. Wegfall sozialer Zuwendungen) führte (569). FesteAnstellung und Beförderung waren von politischem Wohlverhaltenanhängig. Daher kann bei allen Beförderungen , die in die NS-Zeitfielen, davon ausgegangen werden, daß sich der Betreffende zumindestaus Opportunismus politisch in irgendeiner Form in Szene gesetzt hatte- auch wenn dies dann nach 1945 in Spruchkammerverfahren relativiertoder bestritten wurde. So versuchte z.B. ein Physiker der Schule, seineBeförderung zum Oberstudienrat nicht im Lichte seinerParteimitgliedschaft zu sehen, sondern als Wiedergutmachung für eineihm wegen überragender fachlicher Fähigkeiten (Selbsteinschätzung)schon vorher zustehende Beförderung; die Spruchkammer folgte diesemkomplizierten Gedanken nicht und stufte ihn zurück (570).
In Lehrerbeurteilungen wurde in der Regel auf politischeZuverlässigkeit eingegangen. Im Mai 1942 erhielt ein DeutschlehrerUnterrichtsbesuch. Er "drängte", so schrieb der Beurteiler, "zum neuenStoff", nämlich der Lektüre einer Schrift des Rassentheoretikers Paulde Lagarde. Seine "Darbietung" war daher "weltanschaulich wohl zugebrauchen", der Mann durfte als "nationalpolitisch durchauszuverlässig" gelten (571). Vom Biologen Müller (s.o.), der nicht Pgwar, hieß es höheren Orts 1937, daß er "weltanschaulich noch nicht dieletzte innere Einheit und Sicherheit in sich selbst gefunden hat"(572).
Wo solche Beurteilungsmaßstäbe angelegt wurden, konnte auchdenunziert werden. Daß die Denunziation einen beachtlichen Beitrag zurFestigung der NS-Herrschaft geleistet hat, ist lange verdrängt worden(573).
Kaufmann, 1949 bis 50 Schulleiter der FEOS, scheiterte allemAnschein nach mit einer Bewerbung auf einen Stellvertreterpostenwährend der NS-Zeit, weil rechtzeitig eine Denunziation erfolgte, u.a.wegen zu sparsamer Anwendung des Hitlergrußes (574). Der ehemaligeSchulleiter Reinhardt ("Schnürle") nahm 1935 während seiner Zeit inSchwäbisch Hall an einem Fortbildungslager in Isny teil. Nach seinerAbreise traf dort eine an ihn gerichtete Postkarte ein, die ihndenunzierte. Der Lagerleiter las in aller Selbstverständlichkeit dieKarte und sandte sie nicht Reinhardt nach, sondern an dasKultministerium in Stuttgart. Reinhardt wurde in Hall sofort verhört,konnte sich aber aus der Affäre ziehen, weil er überzeugend aufpersönliche Motive des Absenders verweisen konnte. Reinhardt wurde erst1939 Parteigenosse (575).
Auch die Denunziation eines Lehrers durch einen Schüler kannbelegt werden. Der Schüler Staudenmayer, 1942 gefallen, beschwerte sichüber den Chemielehrer Schneiderhan wegen zu seltenen Gebrauchs desHitlergrußes (vgl. Faksimile) bei der Ortsgruppe "Rosenberg" der NSDAP.Schneiderhan rechtfertigte sich umständlich und nach allen Seiten ineinem langen Schreiben. Schulleiter Dr.Weitbrecht fügte den Vermerkhinzu, daß seinen Beobachtungen nach an der Schule der "deutsche Grußdes Lehrers gern und stramm erwidert" werde (576). Der kurz vor seinerPensionierung stehende Schneiderhan, 1932 Zentrumsmitglied, trug fortanLinientreue durch Anheften von Abzeichen zur Schau und mußte dafür 1935in einer Kneipzeitung der Klasse 6a hämische Zeilen lesen: "AmSchulhaus hält ein schnittiger Wagen./ Sein Besitzer tut drei Abzeichentragen./ SA-Mann, Pg Schneiderhan,/ Früher fanatischer Zentrumsmann./Am Kräherwald steht eine Luxusvilla/ Im Auto vertritt er den NSKK (=Nationalsozialistisches Kraftfahrerkorps)" (577).
Mitglieder in der NSDAP wurden etwas über 30% der deutschenLehrer, davon erst 80% nach 1933; diesen wurde als "Konjunkturrittern"in der Partei mißtraut (578). Die FEOS lag unter den 30% (579); zumVergleich: der Organisationsgrad von Ärzten betrug 45% (580).
Das Studium der Personalakten der betreffenden Lehrer führt zueinem eigenartigen, doch auch einleuchtenden Ergebnis: Nicht die'harten Hunde' unter ihnen, nicht der Typus 'SA-Mann mit Stiernacken'wurden Parteimitglied, sondern im Gegenteil durchweg Lehrer, derenPersönlichkeitsprofil, wie es sich aus Akten und Erinnerungen ergibt,auf Weichheit, Umgänglichkeit, Nachgiebigkeit schließen läßt, Lehrerauch, die z.T. ihre liebe Mühe hatten, unter den Schülern für Disziplinzu sorgen. Als ein "herzkranker, etwas ängstlicher Mann" wird einer vonihnen charakterisiert (581); von einem anderen heißt es, er sei"gutmütig", "fein besaitet", habe eine "etwas ängstliche undübersteigerte Beamtengemäßheit" entwickelt (582).- Viele diesersensiblen Männer haben dann in den Spruchkammerverfahren versucht, mitHilfe von 'Persilscheinen', die bereitwillig auch vom Personalrat derSchule - damals: "Vertrauensmann" - ausgestellt wurden, ihreParteimitgliedschaft herunterzuspielen, gern mit Verweis auf besondersherzlichen Umgang mit Vertretern der "jüdischen Volksgruppe" (583).
Opportunismus also und Ängstlichkeit und natürlich ideologischeUnbedenklichkeit waren es, die manchen FEOS-Lehrer in die Parteitrieben. Die Gegenprobe ergänzt den Befund. Lehrer, die für ihre Härtebekannt waren, traten der Partei nicht bei, sondern hielten manchmalfreche Reden: "Es gibt nicht nur den Dr.Goebbels, sondern auch denDr.Häußler!" (584). In der Nachkriegszeit fragte ein der CDUnahestehender Schüler in einer Beschwerde über einen dieserRegimegegner, ob dieser "Tyrann" denn die Eignung besitze,"demokratisch" zu erziehen (585).
Resistenz gegen den Nationalsozialismus zeigten durchweg dieFEOS-Lehrer, die religiös stark gebunden waren: Sautter natürlich,Weber, Schnapper, der katholische Religionslehrer Schlichthärle,Hemberger, Traub, einige wenige andere dazu. Es gibt für die erstenNS-Jahre allerdings folgenden Befund eines 'Ehemaligen': "Mein Eindruckwar und ist, daß sich die Lehrer - ohne Ausnahme - angepaßt haben. Zuechten, tiefgreifenden Diskussionen, Spannungen oder Konfrontationenmit den Schülern ist es meines Wissens nie gekommen. Offensichtlich wardie Welt eine heile Welt und auch nach 1933 heil geblieben (586)". AusQuellen für die späteren Jahre, besonders für die Geislinger Zeit, gehtandererseits hervor, daß die Schüler genau wußten, wie ihre Lehrer zumNationalsozialismus standen oder es zumindest ahnten - in der Regelzutreffend, wie das Archivmaterial zeigt (587). Ein Widerspruch ergibtsich daraus nicht. Vermutlich erfuhren manche Lehrer die erstenNS-Jahre als Verbesserung gegenüber der 'Systemzeit', wurden späteraber skeptisch, vollends dann im Krieg.
Ein Wort muß hier über Schulleiter Dr.Weitbrecht gesagt werden (588).
1881 als Sohn eines Musiklehrers geboren, war er der letzte derRektoren der Schule, der den klassischen Bildungsweg improtestantischen Milieu über Landexamen und Seminar (Maulbronn undBlaubeuren) zurücklegte, um dann allerdings nicht Theologie, sondernMathematik zu studieren. Früh engagierte er sich in Verbänden(Philologenverein; mathematisch-naturwissenschaftlicher Verein) undauch politisch: Er war Mitglied im "Reichskolonialbund" und einigenOrganisationen ähnlichen Zuschnitts. 1919 trat er in die DNVP ein undgehörte ihr bis zu ihrer Selbstgleichschaltung im Juni 1933 an. Erübernahm die Leitung der Schule demnach als Angehöriger derprotestantischen, deutschnationalen und damit antidemokratischenFührungsschicht.
Zum Nationalsozialismus hat er nach übereinstimmenden Aussagen vonZeitzeugen Abstand zu halten versucht, obwohl er am 1.Nov.1939 in dieNSDAP eintrat - sehr spät also. Nicht nur, daß ihm dieAufrechterhaltung des wissenschaftlichen Niveaus der Schulmathematik amHerzen lag (s.o.), daß er Schüler vom Besuch spezifischnationalsozialistischer Bildungseinrichtungen wie den "Napolas"abzuhalten suchte - er hielt sich bei der Beurteilung von Lehrern inder Rubrik 'Politische Einstellung' im Vergleich zu anderenSchulleitern so auffällig zurück, daß dies schon einer Parteinahmegleichkam, besonders bei Lehrern, die zum Regime Distanz hielten. Diesgalt 1934 schon für Schnapper (s.o.), der ein "Gewinn" für die Schulesei (589). Aufschlußreich für Weitbrechts Verhalten ist auch der Falldes Philologen Hemberger, der als Nationalsozialist vor 1933 begonnenhatte, sich im Laufe der dreißiger Jahre aber von der Partei abwandte.An der Karlsoberschule, wo er zunächst unterrichtete, erregte er nachMeinung des Schulleiters "Anstoß", weil es ihm "an Klarheit undFestigkeit in seinen politischen und weltanschaulichen Ansichten"fehle. Daher wurde ihm zunächst der Oberstufenunterricht in Geschichteentzogen, und schließlich versetzte man ihn an die FEOS. Über diesenLehrer, dessen Vorgeschichte er kennen mußte, schrieb Weitbrecht:"Seiner Lehraufgabe ist er wissenschaftliche vollkommen gewachsen", undüber Hembergers politische Gesinnung verlor er kein Wort (590).
Von Weitbrecht wird auch erzählt, daß er dem ReichsstatthalterGauleiter Murr gegenüber Unterwerfungsgesten vermied, wenn dieser alsVater des "Kronprinzen" in der Schule erschien, wie es sich dasKollegium insgesamt als Handlung der Selbstachtung anrechnete, daß esden jungen Murr tatsächlich durchfallen ließ, als dessen Noten zurVersetzung nicht reichten (591); offenbar hat Dr.Weitbrecht auch hiernicht interveniert und eine Denunziation eines FEOS-Kollegen durcheinen anderen - auch dazu wurde ein Anlauf genommen - im Ansatzverhindert (592). Weitbrecht wurde wie alle Schulleiter, die der Parteiangehörten, Anfang 1946 seines Amtes enthoben; man stellte dieseNachricht dem damals todkranken Mann nicht mehr zu.
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(4.2.5.) Keine Alternativen für die Schüler
Daß die "Bewegung" 1933 die Mehrzahl der FEORS-Schülerergriffen hat, ist auf Grund aller vorliegenden Materialien als sicheranzunehmen. Bezeichnend mag sein, daß die Schülerverbindung Fidelitas1933 bei Zusammenkünften das Horst-Wessel-Lied sang (593). FolgendeRahmenbedingungen dürfen vorausgesetzt werden:
■ | 1. Die Gewöhnung der damaligen Schülergeneration an Gehorsam und eine grundsätzlich als hierarchisch verstandene Gesellschaftsordnung war entsprechend den Traditionen aus dem Kaiserreich und den Erziehungsidealen der FEORS-Elternschaft hoch, auch wenn sich die Entstehung einer besonderen 'Jugendwelt' abzeichnete (s.o.). Dies kam dem Nationalsozialismus jedoch eher entgegen: Wenn es Autoritätsprobleme in der Schule gab, so nicht, weil Hierarchien als solche in Frage gestellt worden wären, sondern weil die in der Schule vorzufindenden mit denen in HJ oder SA nicht mithalten konnten. In diesem Sinne und mit noch verstärktem Selbstbewußtsein durch den Kult, der um die Jugend getrieben wurde, mochten den Schülern der dreißiger Jahre ihre Lehrer ähnlich wie dem Ehemaligen Buck zehn Jahre zuvor (s.o.) als Relikte einer vergangenen Zeit erscheinen. Ein Ehemaliger des Abiturjahrgangs 1937 erinnert sich an "viel ... Opferbereitschaft", aber auch an "jugendliche Arroganz und fehlende Toleranz bis zur ideologischen Totalität", an "Mißachtung, wenn nicht sogar Verachtung der Alten und konservativ Besonnenen". Es gab Schüler, "die ihre neue nationale Position den Lehrern gegenüber" ausnützten (594). Die erhaltenen Abitur- und Kneipzeitungen von Klassen der NS-Zeit (595) zeigen ebenfalls, daß vor der Lehrerschaft nicht gerade große Achtung herrschte. Ob einer linientreu war oder nicht, hat in den Lehrerporträts der Abschlußklassen eine untergeordnete Rolle gespielt. Für einen Biologielehrer fand sich der Name "Doktor Arier" (Abi 1937). Ein Turnlehrer, Oberleutnant d.R., wurde zitiert: "Beim Kommiß wird man Sie schon noch durchkneten. Richt Euch! Heil Hitler! Weggetreten!" (Abi 1939). Überhaupt der Hitlergruß: "Den Deutschen Gruß spricht er pathetisch/ Und gleich darauf wird er elegisch" (1941) - das galt einem Deutschlehrer. Ein Physiklehrer wird zitiert: "Das nächste Mal kommt eine Klassenarbeit. Heil Hitler!". Und derselbe: "Grüß Gott Heil Hitler! Sitzet Se na/ glaub mr fanget mit Mechanik a" (1937). Über den zweiten Nachkriegsschulleiter Schmidt, der natürlich kein Nationalsozialist war: "Mit 'Guten Morgen' Radda (= Schmidt) das Klassenzimmer betritt/ 'Heil Hitler' jedoch begleitet sofort den zweiten Schritt" (1937) - vielleicht sollte Schmidt hier vor der möglichen denunziatorischen Wirkung der ersten Zeile geschützt werden. Der offenkundig lässige Umgang mit NS-Symbolik wie dem Hitlergruß führt zu einer zweiten Überlegung. |
■ | 2. Zwar kannten die Schüler der dreißiger Jahre zum Nationalsozialismus keine Alternative oder nur, wenn sie zu Haus in einem anderen ideologischen Milieu lebten - und auch dann blieb ihnen außerhalb der Familie nichts anderes übrig, als sich anzupassen. Die Abschottung vom Ausland - heute unvorstellbar - war perfekt. Und es muß immer bedacht werden, daß der Nationalsozialismus in wichtigen Bereichen: Gemeinschaftsideologie, antidemokratische Einstellungen, Kult der deutschen Nation, autoritäre Strukturen in allen Erziehungsinstanzen, gerade auch in den öffentlichen, aber auch in den Elternhäusern, an Voraussetzungen anknüpfen konnte, die aus dem Kaiserreich stammten. Wer Distanz hielt, blieb zumeist in diesen Haltungen befangen - man kann es an der Lehrerschaft der FEOS beobachten. Aus heutiger Perspektive, jedenfalls der nach 1968, fallen mehr die Ähnlichkeiten zwischen üblicher konservativer Erziehung und nationalsozialistischer ins Auge als die Unterschiede, und es ergibt sich eine Kontinuitätslinie, die gegen Ende der sechziger Jahre einen viel tieferen Bruch erfuhr als 1933. Vom Nationalsozialismus wurden die Jugendlichen erst oberhalb des Bestandes an konservativen Selbstverständlichkeiten abgeholt. Jedoch ist nun davon auszugehen, daß die Parolen der Partei im Laufe der Jahre immer weniger zündeten. Die Feindbilder - Demokratie, Kommunismus - waren den Jugendlichen aus eigener Anschauung nicht bekannt und gehörten nicht zu ihrer Lebenswelt. Ein Sechzehnjähriger konnte sich nicht recht vorstellen, was gemeint war, wenn ihm 1939 sein Lehrer etwas vom "Rettungswerk des Führers" erzählte. Auf diesen kläglichen Rest war zum Schluß der Geschichtsunterricht geschrumpft (s.o.). Für Schüler war das "Rettungswerk" ferner Lernstoff, die Aufmärsche, Reden, Gedenk- und Totenfeiern waren nahe, aber wurden zur bloßen Gewohnheit. Das war eine Hülle um das Alltagsleben, das von NS-Ideologemen nicht eng berührt wurde. Auch unter den Bedingungen des Totalitarismus und des Krieges stand das persönliche Leben - Freundschaften, Freizeit, Berufswahl - im Zentrum. Die HJ war Routine, vielfach eher lästig. Die Uniform, nachdem sie ein jeder trug, verlor die Faszination der ersten Tage. Die Banalitäten des Schulalltags behaupteten sich. Das legendäre, im Herbst 1943 von einem Blindgänger durch alle Stockwerke der Schule gerissene Loch benützte ein "Aga" genannter Schüler als Flugschneise für eine Kastanie an den Kopf eines Lehrers (596). Ein 'Ehemaliger', Abitur 1949, resümierte bei Kriegsende: "Erst jetzt kam mir richtig zu Bewußtsein, wie ich die Einschränkungen der persönlichen Freiheit gehaßt hatte. Durch die Gewöhnung ... hatte man sich vorher nie richtig Rechenschaft darüber abgegeben. Mit zehn Jahren war man zum Jungvolk eingezogen worden. Jeden Mittwoch- und Samstagnachmittag war Heimnachmittag mit politischem oder vormilitärischem Unterricht bzw. Geländespiel gewesen, Aufmärsche hatten mit blödsinnigen Exerzierübungen abgewechselt. Und dazu die andauernde Propagandaberieselung ..." (597). Übrigens redeten 1941 die Nationalsozialisten erstmals davon, "daß junge Menschen einen gewissen Spielraum benötigten, der ihnen für ihre persönlichen Angelegenheiten und damit für ihre innere Reife zur Verfügung stehen muß" (598). Diese Auffassung vertrat Reichsjugendführer Axmann im Zusammenhang mit einer Neubestimmung des Verhältnisses zwischen HJ, Schule und Elternhaus. Vermutlich erkannte man, daß die Jugend überfordert wurde. |
(4.2.6.) 1939 - 45: Fortschreitender Zerfall des Schullebens
Viele Schüler aus den dreißiger Jahren haben im ZweitenWeltkrieg ihr Leben gelassen: Von den 77 Angehörigen desAbiturjahrgangs 1939/40 fielen z.B. 30, sieben blieben verschollen.Reinhold Sautters Notenbuch ist auf vielen Seiten beklebt mitTodesanzeigen ("Heldentod"; gefallen in "treuester Pflichterfüllung fürFührer, Volk und Vaterland").
Schon vor dem Krieg wurde in der Schule die "Wehrerziehung"forciert. Sie galt 1939 als "Unterrichts- und Erziehungsgrundsatz" inallen Fächern: das arische "Erbgut" ermögliche "soldatische, heldischeHaltung" (599); 1940 sollte die "Wehrlehre" im Unterricht verbindlichwerden (600), und die Schuljugend wurde an die "innere Front" (601)gerufen: Sondereinsätze in der Landwirtschaft in den Ferien, dann aberauch während der Schulzeit, Teilnahme an Altstoffsammlungen unddergleichen. Der Schulbetrieb verfiel zusehends: Die Lehrpläne wurden"vereinfacht", dabei aber "die wehrwichtigen Unterrichtsgebiete derMathematik und Naturwissenschaften" verstärkt. In Geschichte, Erdkundeund Deutsch traten, wenn es nach Plan ging, die "hervorragendenLeistungen unserer Wehrmacht in Polen" sowie die "entscheidendenpolitischen und militärischen Führerpersönlichkeiten" in denVordergrund (602). Manch einer der Schüler zeigte 1940 nicht übel Lust,sich freiwillig zu melden, um am "Endsieg" teilzuhaben (603).
Seit Anfang 1943 kamen Schüler der FEOS - wie die der anderenHöheren Schulen Stuttgarts - als Luftwaffenhelfer klassenweise zumEinsatz. Vorhergegangen waren Elternversammlungen - für die FEOSzusammen mit Karls- und Schickhardtoberschule -, auf denen es dieBehördenvertreter nicht durchweg leicht hatten. Es kennzeichnet dieSituation, daß nicht einmal alle Eltern für ihre Söhne"Heranziehungsbescheide" erhalten hatten, weil Mangel an Vordruckenherrschte. Auf einer der Elternversammlungen mußte "ein fanatischerVater" beruhigt werden, weil er über die HJ "schimpfte, ... die sechsWochenstunden für ihren Dienst zur Verfügung habe, während sich dasElternhaus mit ein paar Stunden begnügen müsse". Stadtrat Dr.Cuhorstfertigte "diesen Querulanten" ab, indem er ihm "mit der gebotenenOffenheit die Meinung der Partei" sagte. Der Stadtrat vermerkte, "daßwir auch in Zukunft kaum großen Widerstand von den Eltern zu erwartenhaben" - aber die Herren begannen, über diese Möglichkeit nachzudenken(604).
Die betroffenen FEOS-Klassen wurden den beiden schwerenFlakbatterien in Weilimdorf und Vaihingen zugeteilt (605). Die in"Fliegerblau", in eine Uniform "mit jugendlichem Schnitt" (606)gekleideten Schüler durften nur einmal in der Woche zu Hauseübernachten, "wenn es die Lage gestattet" (607). In der Presseerschienen Berichte über die "junge Mannschaft": das Essen sei"reichlich und gut", der Schulunterricht gehe weiter, halte die Jungen"geistig rege" und vermittle ihnen "Grundwissen" - als Soldatenerfüllten sie "begeistert ihre Pflicht" (608).
Der Sonderbeauftragte für den LWH-Unterricht im "Raum Stuttgart",Schulleiter Friz von der Kepleroberschule in Cannstatt, nahm ganzanderes wahr. Ohne an irgendeiner Stelle in NS-Rhetorik zu verfallen,stellte er in einem ausführlichen Bericht im Dezember 1943 folgendesfest: "Die Hauptschwierigkeit ... liegt darin, daß die Schüler - vorallem die der 6.Klassen - in einem Alter stehen, das weder diekörperlichen noch die seelischen Kräfte besitzt, um die Eindrücke dermilitärischen Umwelt und die militärische Beanspruchung inversöhnlichen Einklang zu bringen mit den schulischen Forderungen ...".Er verwies auf "Ermüdungserscheinungen im Unterricht", aufLeistungsabfall zuvor eifriger Schüler. Daraus ergebe sich auch für diemeist "in vorgerücktem Alter" stehenden Lehrer - die jüngeren waren ander Front - ein gewaltiger "Aufwand an Kraft und Energie", auch wegender langen Wege zu den Stellungen. Friz prangerte auch Mängel in denUnterrichtsräumen, ungenügende Heizung und Beleuchtung an (609).
Der Verlegung der Schule nach Geislingen (vgl. Hofstetter) war dieEntdeckung vorausgegangen, daß im Gebäude die Zwischendecken nichtmassiv, sondern nur mit Bauschutt gefüllt waren: Deshalb durchschlugder schon erwähnte Blindgänger eines Vormittags mehrere Stockwerke desGebäudes. Im Haus blieben allerdings einige wenige "Sammelklassen" ausSchülern auch anderer Schulen - daher durfte nichts ausgelagert werden,und die Schule verlor ihr gesamtes Inventar, als sie in der Nacht vom12. auf den 13.September 1944 einem Flächenbrand zum Opfer fiel (610).
Die Evakuierung der Stuttgarter Schüler wurde den Verantwortlichenzusehends peinlicher. Murr drückte sich in der Frage, ob dieEvakuierten zu Weihnachten 1944 nach Hause dürften, um eineEntscheidung: Er ließ wissen, daß eine "Heimreise" nicht grundsätzlichverboten sei, die Lehrer sollten aber darauf sehen, "daß möglichstwenig oder gar keine Schulkinder fahren" (611). OberbürgermeisterStrölin versandte zu Weihnachten Bücherpakete und Spiele und herzlichgehaltene Briefe - als ob den Absender ein schlechtes Gewissen plage.Die darin enthaltenen Durchhalteparolen entbehren der sonst üblichenForschheit: "... könnt in Eurem kleinen Kreise ... zeigen, daß Ihr mitgläubigem Herzen junge Söhne und Töchter des um Eure glückliche Zukunftkämpfenden deutschen Volkes seid" (612).
Nach der Auflösung des Schulbetriebes im Chaos in den erstenMonaten des Jahres 1945 wurde im Bürgermeisteramt vermerkt, daßdemnächst "eben eine Schülerinventur gemacht werden" müsse (613). Daswar aus Stuttgart das letzte nationalsozialistische Wort in SachenSchulwesen.
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(5.) Bemerkungen zur Nachkriegsgeschichte am FEG
(5.1.) Erbärmliche Anfänge
Die Nachkriegsgeschichte des FEG begann im November 1945 undunter erbärmlichen Umständen. Die Klassen wurden auf mehrere nocherhaltene oder nur beschädigte Schulgebäude verteilt, darunterZeppelin-, Schickhardt-, Wilhelms- und Karlsoberschule (614). Daß sie1954 die neu erbaute "Oberschule West", das gegenwärtige Gebäude, fürsich erhielt, war nicht selbstverständlich. Hauptkonkurrent war dasEbelu, der "Kampf" - so der Ausdruck, den die Fidelitas für ihrenEinsatz zugunsten des FEG wählte -, wurde mit Eingaben an einzelneGemeinderäte und einflußreiche Beamte geführt (615). Die systematischePflege der Tradition der Schule hat unter Federführung von SchulleiterReinhardt damals begonnen: Man wollte etwas vorzeigen. Den Ausschlaghat zuletzt wohl der überzeugende Verweis auf das Einzugsgebiet "West"gegeben, das in den fünfziger Jahren wieder rasch bebaut wurde (616).
Zunächst aber gab es Schichtunterricht bis abends um 18.10 Uhr,die Lehrer hetzten von Schule zu Schule. Die Verlängerung derUnterrichtsstunden auf 50 Minuten im Jahr 1951 machte den Stundenplannoch schwieriger für die 1950 wieder 460 Schüler. Diese hattenBrennmaterial mitzubringen. Bücher gab es zunächst nicht - die altenwaren verboten worden -, und es fehlte auch sonst an allem: anTafelkreide, an Schreibmaterial. Am 2.Mai 1947 wurden für zehn Pfennige1000 Schreibstifte an die Schüler ausgegeben, einen neuen erhielt nur,wer zwei alte abgab (617).
Schlimm stand es um die oft väterlosen Schüler:Konzentrationsmängel, körperliche Schäden, Hunger, dazu bei manchenfortschreitende Verwahrlosung. Ende 1946 wurde ein Schüler wegenEinbruchsdiebstahls zu vier Wochen Jugendarrest verurteilt (618).Selbstverständlich ließen die Leistungen zu wünschen übrig. Penibel hatein Lehrer der Schule in einem Rechenschaftsbericht Rechtschreibfehlerfestgehalten, die eine 10.Klasse damals produziert hat: die Schaar, dieWallnuß, Lohrbeeren, nähmlich usw.. Freilich gehört die Liste auch insGenre zeitenthobener Lehrerklage: Es werde "zu wenig gesiebt", steht danoch, die Schüler seien "gelegentlich läppisch", manche"naturburschenhaft", obwohl sie andererseits keine Lust zum Wandern,aber doch auf gehaltvolle Getränke hatten (619). Ein anderer Kollegestellte 1951 in einem Referat die Grammatikkenntnisse der Schüler als"mehr als mangelhaft" dar, nämlich im Gegensatz zu früher, "d.h. vordreißig Jahren" (620). Diese Art von Nostalgie, die sich nie mehr ganzverloren hat, ist vermutlich durch die schwierigen Arbeitsbedingungender ersten Nachkriegsjahre zur Hochblüte gelangt.
Es herrschte Lehrermangel als Folge des Kriegs, aber auch derSuspendierungen zum Zwecke der Entnazifizierung. Unbelastete Personenohne Lehrerexamen übernahmen Unterricht: z.B. gab ein FlugkapitänPhysik (621). Die "Weihnachtsamnestie" von 1947 führte zur Rückkehr dermeisten Belasteten in den Beruf, wobei in der Regel ein Schulwechselerfolgte. Erstmals wurden im Schuljahr 1950/51 wieder alle im Lehrplanvorgesehenen Stunden erteilt (622).
Nach dem Krieg fand das erste Abitur an der Schule 1949 statt. Zuden Abiturienten zählte eine "Sonderklasse", die aus Kriegsteilnehmerngebildet worden war und die im Kollegium "in Mißkredit" geriet, so daßeinzig der Schulmusiker Roth (Vater des derzeitigen Musiklehrers FritzRoth) sich noch "unvoreingenommen" zu diesen Schülern bekannte und sieauf einem Ausflug begleitete (623).
Diese verschrieene Klasse - Parallelen zum Abiturjahrgang 1918sind auffällig (s.o.) - hat eine der sprachlich und inhaltlichniveauvollsten Abiturzeitungen hergestellt, die es am FEG je gab - wennnicht die beste überhaupt. Die Schüler versahen sie mit demTh.Wilder-Titel "Wir sind noch einmal davongekommen" und verliehendamit jener Stimmung Ausdruck, auf die sich die Welt nach 1945 geeinigthatte. Ein jüngerer Neuphilologe und Historiker - freilich war auch erschon 40 Jahre alt - wurde darin gelobt, weil er zu freiem "Vortrag"imstande war. Die anderen Lehrer lasen ihren Unterrichtsstoff vomManuskript ab. Sie mußten sich in den geltenden Übergangslehrplan ersteinarbeiten, und vielleicht hatten sie auch Angst, etwas Falsches zusagen. Politische Äußerungen finden sich in dieser Zeitung nicht, abersehr gern war als Lehrer "im Kreise der Konservativen undRückständigen" der Kunsterzieher Mark gesehen, der die Schüler in eineOskar-Schlemmer-Ausstellung begleitete und sie dort in die "moderneKunst" einführte (624).
Den Abiturienten dieses Jahrgangs wurde entschieden vom Studiumabgeraten (625). Aber aus den rekonstruierten Schülerlisten frühererZeiten (s.o.) (626), die Berufsangaben enthalten, geht hervor, daßmindestens 40 der 51 Abiturienten von 1949 erfolgreich ein Studiumabgeschlossen haben müssen, wobei sich das in den fünfziger Jahrenüblich gewordene Gesamtbild: Maschinenbau, Elektrotechnik usw. nochnicht so eindeutig ergibt.
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(5.2.) Bildungspolitische Entscheidungen
Es war nach 1945 keineswegs ausgemachte Sache, daß dieDreigliedrigkeit des deutschen Schulsystems erhalten bleiben sollte;die amerikanischen Besatzer mit ihrem anderen Schulwesen wollten esnicht. Bis Herbst 1948 ging das Kultusministerium davon aus, daß einesechsjährige Grundschule eingeführt würde, die sich dann erstverzweigen sollte (627). Allerdings erhoben sich schon 1948Gegenstimmen. Gerhard Storz forderte dazu auf, "das ... nochBestehende" zu erhalten; die "Erneuerung der Schule" sei vor allem vonden Lehrern abhängig; das "Chaos" ertrage nicht auch noch einen "tiefeingreifenden Umbau" (628).
Entscheidend war, daß den Besatzern die Wiederherstellung einesgeordneten Schulbetriebs und die Demokratisierung ("Umerziehung")wichtiger waren als eine schnelle Strukturreform. Seit 1949 arbeitetendie Kultusverwaltungen wieder selbständig und knüpften nun an dieTraditionen der zwanziger Jahre an, auch hinsichtlich des föderativenAuseinandertretens der einzelnen Schulkonzeptionen. Allerdingsnormierte die 1949 geschaffene KMK die Schultypen im DüsseldorferAbkommen von 1955 auf altbekannte Weise: altsprachlich, neusprachlich,mathematisch-naturwissenschaftlich. Die Bezeichnung "Gymnasium" füralle zum Abitur führenden Schulen wurde im Herbst 1953 in Württembergeingeführt, was wütende Proteste der humanistischen Schulen zur Folgehatte (629). Das FEG führt den Titel "Gymnasium" in seinem Briefkopfseit 1954.
Es folgte eine Phase der Stagnation, in der sich aber manchesänderte: die Aufnahme in die Höheren Schulen wurde flexibler gehandhabt(grundsätzliche Tendenz dabei: die Entscheidungen der Eltern erhieltenmehr Gewicht); die stofflichen Anforderungen im Abitur wurdenreduziert; Ende der fünfziger Jahre wurde das Schulgeld abgeschafft(630). Die entscheidenden Änderungen aber haben ihren Ursprung in densechziger Jahren.
Bis dahin war es das Ziel aller Schularten innerhalb desdreigliedrigen Systems, 'Bildung', 'höhere' oder 'volkstümliche', zuvermitteln - das Humboldtsche Ideal der Persönlichkeitsbildung galtwieder in Anknüpfung an die Traditionen vor 1933. Es kam dabei inerster Linie auf die Inhalte der Bildung an, über die noch Konsensbestand. Außerdem sollte das Abitur Ausweis einer "allgemeinenLebensreife" sein, wozu es in den zwanziger Jahren stilisiert wordenwar (631). Die Saarbrücker Rahmenvereinbarungen von 1959 brachtenallerdings eine erste Differenzierung des alten Bildungskanons(Verringerung der Pflichtfächer; Wahlpflichtfächer; Stufenabitur); dasFEG hat zu den 12 württembergischen Schulen gehört, an dem dieseNeuheiten erprobt wurden.
Seit Mitte der sechziger Jahre (1965: Konstituierung des DeutschenBildungsrats) wurde der Begriff der Bildung mehr und mehr aufgegebenzugunsten desjenigen der 'Wissenschaft'. Der überkommene Fächerkanonänderte sich (wenn auch nicht sehr), die Fächer in ihm wurden andersgewichtet, innerhalb der Fächer verbreiterte sich das Spektrummöglicher Inhalte. Mancher Ältere stellt heute mit Unbehagen fest, daßviele 'klassische' Autoren im Fach Deutsch nicht mehr einfach gelesenwerden 'müssen'.
Der Anspruch der Wissenschaftschule und der 1976 allgemeineingeführten reformierten Oberstufe ist einerseits, durch möglicheSpezialisierung auf ein Fach ein Studium der entsprechenden Richtungvorzubereiten, andererseits durch die Vermittlung methodischerFähigkeiten Studierfähigkeit zu entwickeln. Das Abitur berechtigt zumStudium; es ist kein Ausweis von "Reife".
An die Stelle des früheren kulturellen, auf den einzelnenbezogenen Bildungsbegriffs ist als neuer leitender Gesichtspunkt eineher politischer getreten: Die Befähigung zum Leben in einerdemokratischen Gesellschaft; die Wissenschaftsschule und diereformierte Oberstufe stammen aus einer Zeit, in der über notwendige"Demokratisierung" der Gesellschaft, auch über Herstellung von"Chancengleichheit" ein breiter Konsens vorhanden war.
Hier überschneidet sich der entsprechende Strukturplan desDeutschen Bildungsrats (1970) mit einer anderen Entwicklung: derZunahme der Schülerzahl an Höheren Schulen. Die Tendenz hat schon vordem Ersten Weltkrieg eingesetzt (632), war aber bisher immer von denEltern ausgegangen. Neu war jetzt, daß der Staat diese Entwicklungwollte, nach der Entdeckung der "Bildungskatastrophe" (Picht 1959)einerseits sowie der Benachteiligung bestimmter Bevölkerungsgruppen imBildungswesen andererseits - z.B. des legendären "katholischen Mädchensvom Lande". Es ging um ökonomische und gesellschaftspolitische Fragenzugleich.
Das FEG konnte hier auf eine Tradition verweisen. SchulleiterKessler betonte bei Gelegenheit des 175jährigen Jubiläums der Schule inseiner Ansprache, die mit dem zeittypischen Titel "Verantwortunggegenüber der Gesellschaft" ausgestattet war, daß das FEG "von Anfangan die Aufgabe erfüllte, Begabungsreserven zu mobilisieren" (633). Daswird durch diese Beschreibung der Schulgeschichte bestätigt. Nach demZweiten Weltkrieg war der Schule von 1965 an ein "Institut zurErlangung der Hochschulreife" für "junge Handwerker und Kaufleute"lange Jahre angegliedert.
Heute stellt sich, wie bekannt, das Problem anders. DieAbiturienten haben einen Studienplatz nicht mehr sicher, geschweigedenn eine früher für selbstverständlich gehaltene gehobene beruflicheKarriere. Die "Berechtigungen" sind zwar als Voraussetzung nochwichtig, aber sie garantieren nichts mehr. Bildungsabschlüsse undBerufskarrieren entkoppeln sich. Das relativiert einerseitsJugendsünden aus der Schulzeit; auf der anderen Seite setzt eine'Refeudalisierung' ein: An die Stelle der "Berechtigungen" treten eherwieder persönliche Beziehungen oder günstige materielleVoraussetzungen.
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(5.3.) Notizen zur Frauen- und Geschlechtergeschichte am FEG
Forschen wir nach der Geschichte von Frauen und Mädchen an derAnstalt, so stoßen wir zunächst auf Männer. Da ist im 19.Jh. Chr.Frisch, der beispielhafte Vorstand der Schule und Junggeselle. VieleJahre seines Lebens traf er sich mit Schülern und jungen Männern aufdem Turnplatz, hatte aber immerhin zwei Schwestern, gleichfallsunverheiratet. Als er seinen Garten in der Bergstraße der Schulevermachte, ließ er diesen Damen einen Platz unter einem Baumreservieren, von dem sich die Schüler fernzuhalten hatten (634). Eineandere Spur führt zu J.G.Fischer, dem Dichter. Ihm schrieb Ottov.Güntter ein "mystisches Verhältnis" zum Weibe zu (635) - und in derTat, wer in seinem lyrischen Werk blättert, findet das Thema Liebeausführlich bearbeitet: Es gibt da Zeugnisse scheuen Erschreckens, diean den ihm gut bekannten Mörike denken lassen, aber auch solcheheftiger Inbrunst, übrigens ohne jedes Geheimnis. Sonst findet man ander Anstalt zum Thema zunächst nicht viel.
Jedoch nicht in den siebziger Jahren dieses Jahrhunderts, sondernschon im späten Kaiserreich sind Mädchen - man hält den Atem an - aufdie Realanstalt gegangen, z.B. Hilde Kreutz geb.Martz, Jahrgang 1897,die Ärztin wurde (636). Das war möglich, weil Württemberg pragmatischverfuhr und "besonders begabte" (637) Mädchen seit 1905 auf HöhereKnabenschulen gehen ließ, wenn keine entsprechende Mädchenschulevorhanden war. Natürlich waren das an der Realanstalt Einzelfälle: Diehöhere Tochter wurde in der Regel mit einem Vorrat von philologischemBildungswissen für etwa anfallende Konversation ausgerüstet, nicht abermit Realien beladen.
Vermutlich ist es diesen einzelnen unerschrockenen Mädchenunterschiedlich gut an der Realanstalt gegangen, aber insgesamt eherschlecht. Die Vorurteile waren kräftig, die Eignung der Frau fürMathematik und Naturwissenschaft wurde bezweifelt (638). Das Verhaltender männlichen Mitschüler war nicht durchweg das feinste, wie sich aneiner Abiturklasse von 1918 zeigt, in der zwei Mädchen saßen. Was diemännlichen Verfasser der Abiturzeitung dieser Klasse über die beidenschrieben, gehört zu den übelsten und infamsten Flegeleien, die jeEingang in die Abiturientenzeitungen der Schule gefunden haben, und dasheißt nicht wenig. In derselben Zeitung finden sich außerdemmathematisch getarnte Auslassungen auf der sexuellen Anspielungsebene("Kurvendiskussionen"). Beides zusammen muß als Ausdruck der von Elternund Lehrern verordneten Tabuisierung der Sexualität verstanden werden,wie sie für das Kaiserreich typisch war, aber noch lange vorhielt.
Im November 1954 kam es in einer 8.Klasse zwischen Schülern zusexuellen Handlungen pubertären Zuschnitts. Der Vorfall zog einenaußerordentlichen Lehrerkonvent nach sich (639), der mit dem einstimmigbeschlossenen Ultimatum für die Pubertierenden endete. Damit auchwirklich Gerechtigkeit geschah, wurde der Vorfall in allen Einzelheitenbeschrieben und protokolliert. Als der Vertrauenslehrer Dr.Vetter dieumstürzlerische Erwägung anstellte, "ob nicht die (sexuelle) Aufklärungder Klasse durch einen Arzt angebracht" sei, beschied ihm derSchulleiter, daß sich "seinen Erfahrungen nach das in diesem Alternegativ" auswirke. Und er forderte die Kollegen auf, in Zukunft diegeschlechtlichen Regungen der Schüler genauer zu beobachten.
Vier Jahre später hatte dabei einer Erfolg, jedoch kam es diesmalnur zu vier Stunden Rektoratsarrest, nachdem auch dieser Vorgang imKonvent ausführlich beschrieben worden war. Und wieder verhallte dieFrage eines einzelnen Kollegen, ob die Schule nicht "aufklärend auf dieSchüler einwirken" könne, ohne Echo.
Was sich da tat, ist natürlich nicht FEG-, sondern zeitspezifisch.Die Schule gehörte dann 1969 zu denen, die Sexualunterrichtversuchsweise einführte. Dem Konvent wurde das Projekt mit Begründungausführlich vorgestellt, es fiel dabei das Wort "Enttabuisierung".Widerrede erhob sich nicht. Die Dinge waren - wie anderes auch - 1968in Bewegung geraten. Am 14.Februar plädierten in der damals üblichenForm der Resolution einer Massenversammlung der StuttgarterGesamtelternbeirat, die geschäftsführenden Schulleiter, dieVertrauenslehrer, Vertreter des Schülerparlaments - so etwas gab esdamals - und Vertreter des Jugendamts "für den Aufklärungsunterricht anSchulen" (640).
Zurück in den Ersten Weltkrieg, zurück zu den Mädchen. Ein Hauchvon Emanzipation durchwehte die Anfänge der Weimarer Republik. Im"Beobachter", der sozialdemokratischen Tageszeitung Stuttgarts, meldetesich eine Stimme, die bei der "Auslese" für die Oberrealschule gleicheMaßstäbe für Knaben und Mädchen verlangte (641); in der konservativen"Schwäbischen Chronik hingegen wurde empfohlen, daß Mädchen beimEintritt in eine Oberrealschule vorsichtshalber eine Klasse wiederholensollten, wenn sie denn das Wagnis auf sich nähmen (642). - In denzwanziger Jahren mußten Mädchen dann nicht mehr auf die FEORS, wenn siehöhere Realbildung wollten, weil entsprechende Züge an den HöherenMädchenschulen eingerichtet wurden.
In den Unterlagen der Schule aus der Nachkriegszeit findet sichdie Vokabel "Koedukation" erstmals im Protokoll eines Lehrerkonventsvom März 1969, und zwar in Verbindung mit dem Wort "Problem":Schulleiter Kessler berichtete über eine Tagung, auf der das Themabehandelt worden war. Jetzt ging alles zwar langsamer als an anderenSchulen, aber doch unglaublich schnell. Am 11.Dezember 1970 stand aufder Tagesordnung eines Konvents der Punkt: "Einführung der Koedukationam FEG." Es wurde der Gründe gedacht, die bisher dagegen gesprochenhatten: kein Handarbeitsraum, kein Gymnastikraum, unpassende sanitäreEinrichtungen - überhaupt hatte die Schule zu viele Schüler, einErweiterungsbau schien vonnöten. Jetzt aber eine neue Lage: Immer mehrEltern vertrauten ihre Söhne gemischten Schulen an, nur noch ganz, ganzwenige Innenstadtgymnasien verweigerten sich der Koedukation.
Was tat nun das damalige Kollegium? Statt sich über die Aussichtauf naturwüchsige Lösung der Raumprobleme durch schwindendeSchülerzahlen zu freuen, führte es einstimmig, bei fünf Enthaltungen,die Koedukation ein, wenn auch in "nicht forcierte(m), sondernorganische(m) Übergang". Auf eine pädagogische Diskussion der Fragewurde, so vermerkt das Protokoll, ausdrücklich verzichtet.
Werfen wir einen Blick auf die Lehrerinnen der Schule. Die erstendurften im Ersten Weltkrieg tätig werden - als Ersatz für die im Feldestehenden Männer -, und die Schüler staunten (643), daß es so etwasgab. Die letzte dieser Damen hieß Johanna Keppler. Sie wurde ihresDienstes am 8.Januar 1919 enthoben und kam dann, womit wieder allesseine Ordnung hatte, ans Katharinen-Stift (644).
Der Beruf der Lehrerin war zu Anfang, und das heißt: imKaiserreich, ein Versorgungsberuf für unverheiratete Mädchen ausBürgerfamilien. Folgerichtig wurden die Damen am Tag ihrerEheschließung entlassen. Häufig freuten sich die Kollegen darüber, dadie Kolleginnen aus den gehobenen Bevökerungsschichten ihnen Angstmachten.
Das Lehrerinnenzölibat fiel nach der Novemberrevolution, demGrundsatz nach galt nun Gleichberechtigung. Praktisch aber wurdenverheiratete Beamtinnen zur Manövriermasse in schlechten Zeiten. Daszeigte sich schon während der Inflation 1923 und noch stärker in derWeltwirtschaftskrise von 1929 an. 1932 konnten verheiratete Lehrerinnenentlassen werden, wenn das Einkommen der Familie ohne ihren Beitraggesichert erschien. Hitler machte ein Jahr später aus dieserKann-Bestimmung ein Muß (645).
Die männlichen Philologen bezogen zu all dem standesgemäßStellung, indem sie aus dem Vorrat ihrer historischen Einsichtenschöpften: "Lehren von der Emanzipation der Frau hat es in allen Zeitender Geschichte gegeben, wenn die Bande der Zucht und Sitte sichlockerten." Oder auch ganz unverblümt: "Wachsen kann die Zahl derOberlehrerinnen im wesentlichen nur auf Kosten der Zahl derfestangestellten männlichen Philologen" (646). Das Problem bestand imHöheren Schulwesen noch nicht lange, denn wissenschaftliche Ausbildungvon Oberlehrerinnen gab es erst seit 1910; zur Universität waren Frauenin Württemberg 1904 zugelassen worden.
Die erste Lehrerin am FEG war die Studienrätin Eva Enkelmann, die1949 als Krankheitsvertretung wirkte (647). Frau Stella Schmid, eineVolksschullehrerin mit Ergänzungsprüfung, unterrichtete von 1951 bis 52(648) und dann riß die Reihe nicht mehr ab, sondern schwoll an. Eswerden unter den männlichen Kollegen immer weniger, die das Phänomenirritiert.
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(5.4.) Schulleben: Restauration und Vordringen kommerzialisierter Medien-, Konsum- und Freizeitwelt
Wenn nicht alle Anzeichen trügen, läßt sich der bekannteBefund, daß nach dem Kriege eine "Restauration" einsetzte, für das FEGbestätigen.
Zunächst wurde den Lehrern von der Militärregierung eine Erklärungabverlangt, daß sie sich "von Geist, ... Methoden und Ton desNationalsozialismus fernhalten" sollten; es folgten vieleEinzelbestimmungen. Schulleiter Schmid, der sich als dienstältesterNichtparteigenosse um diesen Posten beworben hatte, leistete dieseErklärung bereits im Januar 1946; das Kollegium wurde geschlossen am1.Februar 1947 um 17.00 Uhr vereidigt (649).
Die Entnazifizierung und die "Reeducation" zur Demokratie, so istder Eindruck, haben die Lehrerschaft eher zu abwartenderSolidarisierung als zu einem neuen Anfang veranlaßt. Es waren ja nurwenige im Kollegium, die vor 1933 der Demokratie etwas hattenabgewinnen können.
Vom Nationalsozialismus distanzierte man sich auf andere, eherproblematische Weise. Kennzeichnend dafür ist eine an sichnebensächliche, aber sehr typische Quelle von 1949: das Vorwort desHeftes, mit dem die Schülerselbstverwaltung eingerichtet wurde, einKind der Besatzung. Der Verfasser zitiert Karl Jaspers mit einem Textvon 1931 (Die geistige Situation der Zeit) und Ortega y Gasset undentwickelt in Berufung auf die beiden seinen Gedankengang. Die zuBeginn des Jahrhunderts eingetretene "Vermassung" lasse der"Persönlichkeit des einzelnen" kaum noch Raum, die "Hitler-Zeit" habedies besonders dargetan. Es gehe um die Frage, ob "unsere ganze Kulturnivelliert, mechanisiert, verflacht" werden solle. Die Höhere Schulehabe den Auftrag, dies zu verhindern. Die "innere Schulreform" wolledie Persönlichkeit, die sich "in eine Gemeinschaft ... freiwilligeinordnet". Hier habe die Schülerselbstverwaltung ihren Ort (650).
Die Höhere Schule schloß ungefähr da an, wo sie 1933 vomNationalsozialismus abgeholt worden war: bei der imaginären"Gemeinschaft" einerseits, bei der "Elite" andererseits.
Die Erinnerungen Horst Keils, Abitur 1957, bestätigen den Eindruckeiner Restauration des (scheinbar) apolitischen Elitären: "Wir standenaußerhalb des (politischen) Systems und liebten die Freiheit, aber auchdie Arroganz (651)".
Die Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus fand, wennsie nicht nach dem Vermassungsschema abgewickelt wurde, nicht statt. ImGeschichtsunterricht durfte bis Dezember 1947 - vorsichtshalber - nurbis zur Revolution 1848/49 unterrichtet werden. Nach dem Ende dieserEinschränkung wurde dann schon der Erste Weltkrieg erreicht, weit mehraber nicht, und gern unter Aussparung der Bismarckschen Innenpolitik(652). Im Mai 1959 fragte in der braven Schülerzeitung "FEG-Feuer" einSchüler schüchtern an, ob "das Dritte Reich und der 2.Weltkrieg" nichtgründlicher oder überhaupt durchgenommen werden könnten: "Wie sollenwir das Unglück des Dritten Reichs, in das unsere Väter hineingerutschtsind, vermeiden, wenn wir selber nicht wissen, was damals passiertist?" (653).
Der Begriff "Nationalsozialismus" findet sich in den erhaltenenProtokollen der Fachschaft Geschichte der fünfziger Jahre nie, dafürkümmerte man sich sorgfältig um die "Hohenstaufen". Politische Themenwurden hingegen der Verlust der Ostgebiete und die DDR - das"FEG-Feuer" bezeugt dies. Das lag auch daran, daß das Kollegium nach1945 kräftigen Zuzug aus dem Osten erhalten hatte. Auch SchulleiterKessler, der sich für "Ostkunde" einsetzte, stammte ausMitteldeutschland. 1968 ließ er bei allen Schülern, ohne um elterlicheZustimmung zu bitten, einen Geldbetrag einsammeln und sorgte dafür, daßdie ganze Schule den Ostkunde-Film "Deutsche Heimat im Osten" in einemKino ansah. Der Vorgang, in dem sich die beginnende Kontroverse um die"Ostpolitik" spiegelt, hatte kritische Anmerkungen in den "StuttgarterNachrichten" zur Folge (654). Die Vorführung eines anderen Films, dievon der SMV gewünscht worden war, hatte Jahre zuvor das Lehrerkollegiumverhindert: nämlich des ersten Dokumentarfilms über die KZs ("Nacht undNebel"); es wurden "psychologische und pädagogische" Bedenkenvorgebracht (655). Ein zweites Mal wurde Schulleiter Kessler in derPresse kritisiert - diesmal auf Intervention eines Vaters in der"Stuttgarter Zeitung" -, als er zum 175jährigen Jubiläum der Schule ineiner Galerie 'bedeutender Ehemaliger' die Bilder zweierWeltkriegsgeneräle zeigte, was für ihn wie viele andere Angehörigeseiner Generation eine Selbstverständlichkeit war. Der eine General warSperrle (s.o.), der - wohl zum Glück für die Schule - nicht enttarntwurde, weil dem Foto keine Hinweise auf seine "Lebensleistung"(Kessler) (656) beigegeben waren, der andere war Thumm, Sohn des'Jungdeutschlandthumms' von 1912 (s.o.), und dieses Foto, ebenfallsunbeschriftet, zeigte den General vor leicht bewölktem Himmel mitHakenkreuz auf der Uniform. An diesem Abzeichen hatte der Vater Anstoßgenommen (657); das Kollegium, obwohl ihm schon Lehrer einer jüngerenGeneration angehörten, schwieg dazu.
Bezeichnend aber ist, daß zumindest seit 1968 außerhalb der Schulesolche Traditionspflege nicht mehr überall akzeptiert wurde - fürSchulleiter Kessler, wie verschiedene seiner Reaktionen zeigen (658),und wohl die Mehrzahl der damaligen Lehrer ein unfaßbarer Vorgang. Siehatten es plötzlich mit jungen Leuten zu tun, von denen nicht wenige -freilich mit geringem Risiko - der Elterngeneration das moralischeRecht absprachen, sie zu erziehen. Zeugnisse aus diesen Jahren zeigen,wie tief der Bruch war, wie schnell damals positive Lehrerbilder beimanchen Schülern auseinanderbrachen (659). Es konnte auch nicht sein,daß die Konflikte jener Jahre das FEG aussparten. Wahrscheinlich lag esan einigen jüngeren Lehrern, die das Universitätsmilieu der mittlerensechziger Jahre kannten, daß die Auseinandersetzungen nicht weitereskalierten, als sie das taten ; in einem der konfliktträchtigstenMomente, als ein "Teach in" bevorstand, befolgte Schulleiter Kesslerden Rat des jungen Vertrauenslehrers Nollenberger, die Schule wegeneiner Personalversammlung einfach zu schließen (660).
Im Rückblick auf die Zeit seither wird nun zweierlei erkennbar:
■ | 1. 1968 und in den Jahren danach fand auch am FEG der letzte Generationenkonflikt statt, der so gut wie keinen Lebensbereich aussparte, der polarisierte, zu Entscheidungen zwang und in dessen Zentrum politische Themen standen. Viele Reden und Aufsätze zum Jubiläum 1971 sind ohne Kenntnis dieses Hintergrunds nicht verständlich (661). - Einzig zu Anfang der achtziger Jahre - Nachrüstungsdebatte! - hat es nochmals eine spürbare Politisierung von Schülern am FEG gegeben. Der Konflikt verlief aber nicht an den Generationengrenzen. |
■ | 2. Die 68er-Bewergung muß - ohne daß sie damit genügend erklärt wäre - als Teil eines übergreifenden Vorgangs verstanden werden, der sich bis in die Gegenwart immer mehr ausgeweitet hat: Die Entstehung und Durchsetzung einer ins Schulleben hineinreichenden subkulturellen 'Jugendwelt' - inzwischen verschiedener 'Milieus' mit zunächst (und immer wieder) konfrontativen Phasen. |
In geradezu klassischer Weise kommt ein einst besonderswichtiger Aspekt der Sache in K.U.Böttchers Bericht vom 175jährigenJubiläum der Schule zum Ausdruck. Der Berichterstatter erschien auf dem"Ball der Jugend" und stellte fest: "... (Es) herrschte der Beat. Musikwurde Mauer, an der man sich den Kopf hatte einrennen können ... DerGesellschaftsabend" von Eltern und Lehrern hingegen "hatte ganz anderenZuschnitt. Hier bewegte man sich in kultivierter Atmosphäre" (662).
Dieser Aspekt der Zweiteilung der 'Kultur' - K.U.Böttcher fandübrigens einen Durchgang in der Mauer und "fügte" sich (663) - istheute zweifellos kein besonderes Thema mehr. Aber fest etabliert hatsich die Besonderheit der Lebenswelt von gleichaltrigen Jugendlichen,innerhalb der sich dann einzelne Generationen formieren oder von Medienund Soziologie ausgerufen werden: 'no future', 'Schickimicki','postalternative Fungeneration' (jetzt gerade) usw.; das Angebot istunübersichtlich (664). Diese gesamte Entwicklung hat - wie schon die68er-Bewegung - die seit Ende der fünfziger Jahre sich erweiterndenmateriellen Möglichkeiten von Jugendlichen und den damit verbundenenZuwachs an Freiheit auf vielen Lebensgebieten zur Voraussetzung;parallel dazu haben sich die Normen und Erziehungsvorstellungen sowiedie Lebensstile in einer sich 'individualisierenden' Gesellschaftausdifferenziert. Das derzeitige Ergebnis ist, daß 'Erziehung' mehr alsje zuvor in den verschiedenen Gleichaltrigengruppen stattfindet, daßsie, auch diese Entwicklung beginnt Ende der fünfziger Jahre(Fernsehen!), sehr stark durch Kommerz und Medien vermittelt wird.Schule und Elternhaus, die ihrerseits diesem Differenzierungsprozeßunterworfen sind, auch wenn sie das nicht immer wahrhaben wollen,treten als Erziehungsinstanzen zurück. Nichts beweist dies besser alsder verbreitete Ruf nach 'mehr' Erziehung entweder durch Eltern oderSchule - ein freilich, wie wir wissen, nicht gerade neues Postulat. DasHauptproblem heutiger Jugendlicher - und hier sind am wenigsten nochdie Schüler der Gymnasien betroffen - besteht darin, zu einem frühenZeitpunkt Orientierungskompetenz gegenüber einem vielgestaltigenAngebot zeigen zu müssen - das ist die Kehrseite - und auch Gewinn! -einer im Vergleich zu früher sehr weitgehenden Freiheit in derpersönlichen Lebensgestaltung schon in jungen Jahren. (von Dr. Abelein)
abzuhalten suchte - er hielt sich bei der Beurteilung von Lehrern in der Rubrik 'Politische Einstellung' im Vergleich zu anderen Schulleitern so auffällig zurück, daß dies schon einer Parteinahme gleichkam, besonders bei Lehrern, die zum Regime Distanz hielten. Dies galt 1934 schon für Schnapper (s.o.), der ein "Gewinn" für die Schule sei (589). Aufschlußreich für Weitbrechts Verhalten ist auch der Fall des Philologen Hemberger, der als Nationalsozialist vor 1933 begonnen hatte, sich im Laufe der dreißiger Jahre aber von der Partei abwandte. An der Karlsoberschule, wo er zunächst unterrichtete, erregte er nach Meinung des Schulleiters "Anstoß", weil es ihm "an Klarheit und Festigkeit in seinen politischen und weltanschaulichen Ansichten" fehle. Daher wurde ihm zunächst der Oberstufenunterricht in Geschichte entzogen, und schließlich versetzte man ihn an die FEOS. Über diesen Lehrer, dessen Vorgeschichte er kennen mußte, schrieb Weitbrecht:"Seiner Lehraufgabe ist er wissenschaftliche vollkommen gewachsen", und über Hembergers politische Gesinnung verlor er kein Wort (590).
Von Weitbrecht wird auch erzählt, daß er dem Reichsstatthalter Gauleiter Murr gegenüber Unterwerfungsgesten vermied, wenn dieser als Vater des "Kronprinzen" in der Schule erschien, wie es sich das Kollegium insgesamt als Handlung der Selbstachtung anrechnete, daß es den jungen Murr tatsächlich durchfallen ließ, als dessen Noten zur Versetzung nicht reichten (591); offenbar hat Dr.Weitbrecht auch hier nicht interveniert und eine Denunziation eines FEOS-Kollegen durch einen anderen - auch dazu wurde ein Anlauf genommen - im Ansatz verhindert (592). Weitbrecht wurde wie alle Schulleiter, die der Partei angehörten, Anfang 1946 seines Amtes enthoben; man stellte diese Nachricht dem damals todkranken Mann nicht mehr zu.
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(4.2.5.) Keine Alternativen für die Schüler
Daß die "Bewegung" 1933 die Mehrzahl der FEORS-Schüler ergriffen hat, ist auf Grund aller vorliegenden Materialien als sicher anzunehmen. Bezeichnend mag sein, daß die Schülerverbindung Fidelitas 1933 bei Zusammenkünften das Horst-Wessel-Lied sang (593). Folgende Rahmenbedingungen dürfen vorausgesetzt werden:
■ | 1. Die Gewöhnung der damaligen Schülergeneration an Gehorsam und eine grundsätzlich als hierarchisch verstandene Gesellschaftsordnung war entsprechend den Traditionen aus dem Kaiserreich und den Erziehungsidealen der FEORS-Elternschaft hoch, auch wenn sich die Entstehung einer besonderen 'Jugendwelt' abzeichnete (s.o.). Dies kam dem Nationalsozialismus jedoch eher entgegen: Wenn es Autoritätsprobleme in der Schule gab, so nicht, weil Hierarchien als solche in Frage gestellt worden wären, sondern weil die in der Schule vorzufindenden mit denen in HJ oder SA nicht mithalten konnten. In diesem Sinne und mit noch verstärktem Selbstbewußtsein durch den Kult, der um die Jugend getrieben wurde, mochten den Schülern der dreißiger Jahre ihre Lehrer ähnlich wie dem Ehemaligen Buck zehn Jahre zuvor (s.o.) als Relikte einer vergangenen Zeit erscheinen. Ein Ehemaliger des Abiturjahrgangs 1937 erinnert sich an "viel ... Opferbereitschaft", aber auch an "jugendliche Arroganz und fehlende Toleranz bis zur ideologischen Totalität", an "Mißachtung, wenn nicht sogar Verachtung der Alten und konservativ Besonnenen". Es gab Schüler, "die ihre neue nationale Position den Lehrern gegenüber" ausnützten (594). Die erhaltenen Abitur- und Kneipzeitungen von Klassen der NS-Zeit (595) zeigen ebenfalls, daß vor der Lehrerschaft nicht gerade große Achtung herrschte. Ob einer linientreu war oder nicht, hat in den Lehrerporträts der Abschlußklassen eine untergeordnete Rolle gespielt. Für einen Biologielehrer fand sich der Name "Doktor Arier" (Abi 1937). Ein Turnlehrer, Oberleutnant d.R., wurde zitiert: "Beim Kommiß wird man Sie schon noch durchkneten. Richt Euch! Heil Hitler! Weggetreten!" (Abi 1939). Überhaupt der Hitlergruß: "Den Deutschen Gruß spricht er pathetisch/ Und gleich darauf wird er elegisch" (1941) - das galt einem Deutschlehrer. Ein Physiklehrer wird zitiert: "Das nächste Mal kommt eine Klassenarbeit. Heil Hitler!". Und derselbe: "Grüß Gott Heil Hitler! Sitzet Se na/ glaub mr fanget mit Mechanik a" (1937). Über den zweiten Nachkriegsschulleiter Schmidt, der natürlich kein Nationalsozialist war: "Mit 'Guten Morgen' Radda (= Schmidt) das Klassenzimmer betritt/ 'Heil Hitler' jedoch begleitet sofort den zweiten Schritt" (1937) - vielleicht sollte Schmidt hier vor der möglichen denunziatorischen Wirkung der ersten Zeile geschützt werden. Der offenkundig lässige Umgang mit NS-Symbolik wie dem Hitlergruß führt zu einer zweiten Überlegung. |
■ | 2. Zwar kannten die Schüler der dreißiger Jahre zum Nationalsozialismus keine Alternative oder nur, wenn sie zu Haus in einem anderen ideologischen Milieu lebten - und auch dann blieb ihnen außerhalb der Familie nichts anderes übrig, als sich anzupassen. Die Abschottung vom Ausland - heute unvorstellbar - war perfekt. Und es muß immer bedacht werden, daß der Nationalsozialismus in wichtigen Bereichen: Gemeinschaftsideologie, antidemokratische Einstellungen, Kult der deutschen Nation, autoritäre Strukturen in allen Erziehungsinstanzen, gerade auch in den öffentlichen, aber auch in den Elternhäusern, an Voraussetzungen anknüpfen konnte, die aus dem Kaiserreich stammten. Wer Distanz hielt, blieb zumeist in diesen Haltungen befangen - man kann es an der Lehrerschaft der FEOS beobachten. Aus heutiger Perspektive, jedenfalls der nach 1968, fallen mehr die Ähnlichkeiten zwischen üblicher konservativer Erziehung und nationalsozialistischer ins Auge als die Unterschiede, und es ergibt sich eine Kontinuitätslinie, die gegen Ende der sechziger Jahre einen viel tieferen Bruch erfuhr als 1933. Vom Nationalsozialismus wurden die Jugendlichen erst oberhalb des Bestandes an konservativen Selbstverständlichkeiten abgeholt. Jedoch ist nun davon auszugehen, daß die Parolen der Partei im Laufe der Jahre immer weniger zündeten. Die Feindbilder - Demokratie, Kommunismus - waren den Jugendlichen aus eigener Anschauung nicht bekannt und gehörten nicht zu ihrer Lebenswelt. Ein Sechzehnjähriger konnte sich nicht recht vorstellen, was gemeint war, wenn ihm 1939 sein Lehrer etwas vom "Rettungswerk des Führers" erzählte. Auf diesen kläglichen Rest war zum Schluß der Geschichtsunterricht geschrumpft (s.o.). Für Schüler war das "Rettungswerk" ferner Lernstoff, die Aufmärsche, Reden, Gedenk- und Totenfeiern waren nahe, aber wurden zur bloßen Gewohnheit. Das war eine Hülle um das Alltagsleben, das von NS-Ideologemen nicht eng berührt wurde. Auch unter den Bedingungen des Totalitarismus und des Krieges stand das persönliche Leben - Freundschaften, Freizeit, Berufswahl - im Zentrum. Die HJ war Routine, vielfach eher lästig. Die Uniform, nachdem sie ein jeder trug, verlor die Faszination der ersten Tage. Die Banalitäten des Schulalltags behaupteten sich. Das legendäre, im Herbst 1943 von einem Blindgänger durch alle Stockwerke der Schule gerissene Loch benützte ein "Aga" genannter Schüler als Flugschneise für eine Kastanie an den Kopf eines Lehrers (596). Ein 'Ehemaliger', Abitur 1949, resümierte bei Kriegsende: "Erst jetzt kam mir richtig zu Bewußtsein, wie ich die Einschränkungen der persönlichen Freiheit gehaßt hatte. Durch die Gewöhnung ... hatte man sich vorher nie richtig Rechenschaft darüber abgegeben. Mit zehn Jahren war man zum Jungvolk eingezogen worden. Jeden Mittwoch- und Samstagnachmittag war Heimnachmittag mit politischem oder vormilitärischem Unterricht bzw. Geländespiel gewesen, Aufmärsche hatten mit blödsinnigen Exerzierübungen abgewechselt. Und dazu die andauernde Propagandaberieselung ..." (597). Übrigens redeten 1941 die Nationalsozialisten erstmals davon, "daß junge Menschen einen gewissen Spielraum benötigten, der ihnen für ihre persönlichen Angelegenheiten und damit für ihre innere Reife zur Verfügung stehen muß" (598). Diese Auffassung vertrat Reichsjugendführer Axmann im Zusammenhang mit einer Neubestimmung des Verhältnisses zwischen HJ, Schule und Elternhaus. Vermutlich erkannte man, daß die Jugend überfordert wurde. |
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(4.2.6.) 1939 - 45: Fortschreitender Zerfall des Schullebens
Viele Schüler aus den dreißiger Jahren haben im Zweiten Weltkrieg ihr Leben gelassen: Von den 77 Angehörigen des Abiturjahrgangs 1939/40 fielen z.B. 30, sieben blieben verschollen. Reinhold Sautters Notenbuch ist auf vielen Seiten beklebt mit Todesanzeigen ("Heldentod"; gefallen in "treuester Pflichterfüllung für Führer, Volk und Vaterland").
Schon vor dem Krieg wurde in der Schule die "Wehrerziehung" forciert. Sie galt 1939 als "Unterrichts- und Erziehungsgrundsatz" in allen Fächern: das arische "Erbgut" ermögliche "soldatische, heldische Haltung" (599); 1940 sollte die "Wehrlehre" im Unterricht verbindlich werden (600), und die Schuljugend wurde an die "innere Front" (601) gerufen: Sondereinsätze in der Landwirtschaft in den Ferien, dann aber auch während der Schulzeit, Teilnahme an Altstoffsammlungen und dergleichen. Der Schulbetrieb verfiel zusehends: Die Lehrpläne wurden "vereinfacht", dabei aber "die wehrwichtigen Unterrichtsgebiete der Mathematik und Naturwissenschaften" verstärkt. In Geschichte, Erdkunde und Deutsch traten, wenn es nach Plan ging, die "hervorragenden Leistungen unserer Wehrmacht in Polen" sowie die "entscheidenden politischen und militärischen Führerpersönlichkeiten" in den Vordergrund (602). Manch einer der Schüler zeigte 1940 nicht übel Lust, sich freiwillig zu melden, um am "Endsieg" teilzuhaben (603).
Seit Anfang 1943 kamen Schüler der FEOS - wie die der anderen Höheren Schulen Stuttgarts - als Luftwaffenhelfer klassenweise zum Einsatz. Vorhergegangen waren Elternversammlungen - für die FEOS zusammen mit Karls- und Schickhardtoberschule -, auf denen es die Behördenvertreter nicht durchweg leicht hatten. Es kennzeichnet die Situation, daß nicht einmal alle Eltern für ihre Söhne"Heranziehungsbescheide" erhalten hatten, weil Mangel an Vordrucken herrschte. Auf einer der Elternversammlungen mußte "ein fanatischer Vater" beruhigt werden, weil er über die HJ "schimpfte, ... die sechs Wochenstunden für ihren Dienst zur Verfügung habe, während sich das Elternhaus mit ein paar Stunden begnügen müsse". Stadtrat Dr.Cuhorst fertigte "diesen Querulanten" ab, indem er ihm "mit der gebotenen Offenheit die Meinung der Partei" sagte. Der Stadtrat vermerkte, "daß wir auch in Zukunft kaum großen Widerstand von den Eltern zu erwarten haben" - aber die Herren begannen, über diese Möglichkeit nachzudenken (604).
Die betroffenen FEOS-Klassen wurden den beiden schweren Flakbatterien in Weilimdorf und Vaihingen zugeteilt (605). Die in"Fliegerblau", in eine Uniform "mit jugendlichem Schnitt" (606) gekleideten Schüler durften nur einmal in der Woche zu Hause übernachten, "wenn es die Lage gestattet" (607). In der Presse erschienen Berichte über die "junge Mannschaft": das Essen sei "reichlich und gut", der Schulunterricht gehe weiter, halte die Jungen "geistig rege" und vermittle ihnen "Grundwissen" - als Soldaten erfüllten sie "begeistert ihre Pflicht" (608).
Der Sonderbeauftragte für den LWH-Unterricht im "Raum Stuttgart", Schulleiter Friz von der Kepleroberschule in Cannstatt, nahm ganz anderes wahr. Ohne an irgendeiner Stelle in NS-Rhetorik zu verfallen, stellte er in einem ausführlichen Bericht im Dezember 1943 folgendes fest: "Die Hauptschwierigkeit ... liegt darin, daß die Schüler - vor allem die der 6.Klassen - in einem Alter stehen, das weder die körperlichen noch die seelischen Kräfte besitzt, um die Eindrücke der militärischen Umwelt und die militärische Beanspruchung in versöhnlichen Einklang zu bringen mit den schulischen Forderungen ...". Er verwies auf "Ermüdungserscheinungen im Unterricht", auf Leistungsabfall zuvor eifriger Schüler. Daraus ergebe sich auch für die meist "in vorgerücktem Alter" stehenden Lehrer - die jüngeren waren an der Front - ein gewaltiger "Aufwand an Kraft und Energie", auch wegen der langen Wege zu den Stellungen. Friz prangerte auch Mängel in den Unterrichtsräumen, ungenügende Heizung und Beleuchtung an (609).
Der Verlegung der Schule nach Geislingen (vgl. Hofstetter) war die Entdeckung vorausgegangen, daß im Gebäude die Zwischendecken nicht massiv, sondern nur mit Bauschutt gefüllt waren: Deshalb durchschlug der schon erwähnte Blindgänger eines Vormittags mehrere Stockwerke des Gebäudes. Im Haus blieben allerdings einige wenige "Sammelklassen" aus Schülern auch anderer Schulen - daher durfte nichts ausgelagert werden, und die Schule verlor ihr gesamtes Inventar, als sie in der Nacht vom 12. auf den 13.September 1944 einem Flächenbrand zum Opfer fiel (610).
Die Evakuierung der Stuttgarter Schüler wurde den Verantwortlichen zusehends peinlicher. Murr drückte sich in der Frage, ob die Evakuierten zu Weihnachten 1944 nach Hause dürften, um eine Entscheidung: Er ließ wissen, daß eine "Heimreise" nicht grundsätzlich verboten sei, die Lehrer sollten aber darauf sehen, "daß möglichst wenig oder gar keine Schulkinder fahren" (611). Oberbürgermeister Strölin versandte zu Weihnachten Bücherpakete und Spiele und herzlich gehaltene Briefe - als ob den Absender ein schlechtes Gewissen plage. Die darin enthaltenen Durchhalteparolen entbehren der sonst üblichen Forschheit: "... könnt in Eurem kleinen Kreise ... zeigen, daß Ihr mit gläubigem Herzen junge Söhne und Töchter des um Eure glückliche Zukunft kämpfenden deutschen Volkes seid" (612).
Nach der Auflösung des Schulbetriebes im Chaos in den ersten Monaten des Jahres 1945 wurde im Bürgermeisteramt vermerkt, daß demnächst "eben eine Schülerinventur gemacht werden" müsse (613). Das war aus Stuttgart das letzte nationalsozialistische Wort in Sachen Schulwesen.
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(5.) Bemerkungen zur Nachkriegsgeschichte am FEG
(5.1.) Erbärmliche Anfänge
Die Nachkriegsgeschichte des FEG begann im November 1945 und unter erbärmlichen Umständen. Die Klassen wurden auf mehrere noch erhaltene oder nur beschädigte Schulgebäude verteilt, darunter Zeppelin-, Schickhardt-, Wilhelms- und Karlsoberschule (614). Daß sie 1954 die neu erbaute "Oberschule West", das gegenwärtige Gebäude, für sich erhielt, war nicht selbstverständlich. Hauptkonkurrent war das Ebelu, der "Kampf" - so der Ausdruck, den die Fidelitas für ihren Einsatz zugunsten des FEG wählte -, wurde mit Eingaben an einzelne Gemeinderäte und einflußreiche Beamte geführt (615). Die systematische Pflege der Tradition der Schule hat unter Federführung von Schulleiter Reinhardt damals begonnen: Man wollte etwas vorzeigen. Den Ausschlag hat zuletzt wohl der überzeugende Verweis auf das Einzugsgebiet "West" gegeben, das in den fünfziger Jahren wieder rasch bebaut wurde (616).
Zunächst aber gab es Schichtunterricht bis abends um 18.10 Uhr, die Lehrer hetzten von Schule zu Schule. Die Verlängerung der Unterrichtsstunden auf 50 Minuten im Jahr 1951 machte den Stundenplan noch schwieriger für die 1950 wieder 460 Schüler. Diese hatten Brennmaterial mitzubringen. Bücher gab es zunächst nicht - die alten waren verboten worden -, und es fehlte auch sonst an allem: an Tafelkreide, an Schreibmaterial. Am 2.Mai 1947 wurden für zehn Pfennige 1000 Schreibstifte an die Schüler ausgegeben, einen neuen erhielt nur, wer zwei alte abgab (617).
Schlimm stand es um die oft väterlosen Schüler: Konzentrationsmängel, körperliche Schäden, Hunger, dazu bei manchen fortschreitende Verwahrlosung. Ende 1946 wurde ein Schüler wegen Einbruchsdiebstahls zu vier Wochen Jugendarrest verurteilt (618). Selbstverständlich ließen die Leistungen zu wünschen übrig. Penibel hat ein Lehrer der Schule in einem Rechenschaftsbericht Rechtschreibfehler festgehalten, die eine 10.Klasse damals produziert hat: die Schaar, die Wallnuß, Lohrbeeren, nähmlich usw.. Freilich gehört die Liste auch ins Genre zeitenthobener Lehrerklage: Es werde "zu wenig gesiebt", steht da noch, die Schüler seien "gelegentlich läppisch", manche "naturburschenhaft", obwohl sie andererseits keine Lust zum Wandern, aber doch auf gehaltvolle Getränke hatten (619). Ein anderer Kollege stellte 1951 in einem Referat die Grammatikkenntnisse der Schüler als "mehr als mangelhaft" dar, nämlich im Gegensatz zu früher, "d.h. vor dreißig Jahren" (620). Diese Art von Nostalgie, die sich nie mehr ganz verloren hat, ist vermutlich durch die schwierigen Arbeitsbedingungen der ersten Nachkriegsjahre zur Hochblüte gelangt.
Es herrschte Lehrermangel als Folge des Kriegs, aber auch der Suspendierungen zum Zwecke der Entnazifizierung. Unbelastete Personen ohne Lehrerexamen übernahmen Unterricht: z.B. gab ein Flugkapitän Physik (621). Die "Weihnachtsamnestie" von 1947 führte zur Rückkehr der meisten Belasteten in den Beruf, wobei in der Regel ein Schulwechsel erfolgte. Erstmals wurden im Schuljahr 1950/51 wieder alle im Lehrplan vorgesehenen Stunden erteilt (622).
Nach dem Krieg fand das erste Abitur an der Schule 1949 statt. Zu den Abiturienten zählte eine "Sonderklasse", die aus Kriegsteilnehmern gebildet worden war und die im Kollegium "in Mißkredit" geriet, so daß einzig der Schulmusiker Roth (Vater des derzeitigen Musiklehrers Fritz Roth) sich noch "unvoreingenommen" zu diesen Schülern bekannte und sie auf einem Ausflug begleitete (623).
Diese verschrieene Klasse - Parallelen zum Abiturjahrgang 1918 sind auffällig (s.o.) - hat eine der sprachlich und inhaltlich niveauvollsten Abiturzeitungen hergestellt, die es am FEG je gab - wenn nicht die beste überhaupt. Die Schüler versahen sie mit dem Th.Wilder-Titel "Wir sind noch einmal davongekommen" und verliehen damit jener Stimmung Ausdruck, auf die sich die Welt nach 1945 geeinigt hatte. Ein jüngerer Neuphilologe und Historiker - freilich war auch er schon 40 Jahre alt - wurde darin gelobt, weil er zu freiem "Vortrag" imstande war. Die anderen Lehrer lasen ihren Unterrichtsstoff vom Manuskript ab. Sie mußten sich in den geltenden Übergangslehrplan erst einarbeiten, und vielleicht hatten sie auch Angst, etwas Falsches zu sagen. Politische Äußerungen finden sich in dieser Zeitung nicht, aber sehr gern war als Lehrer "im Kreise der Konservativen und Rückständigen" der Kunsterzieher Mark gesehen, der die Schüler in eine Oskar-Schlemmer-Ausstellung begleitete und sie dort in die "moderne Kunst" einführte (624).
Den Abiturienten dieses Jahrgangs wurde entschieden vom Studium abgeraten (625). Aber aus den rekonstruierten Schülerlisten früherer Zeiten (s.o.) (626), die Berufsangaben enthalten, geht hervor, daß mindestens 40 der 51 Abiturienten von 1949 erfolgreich ein Studium abgeschlossen haben müssen, wobei sich das in den fünfziger Jahren üblich gewordene Gesamtbild: Maschinenbau, Elektrotechnik usw. noch nicht so eindeutig ergibt.
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(5.2.) Bildungspolitische Entscheidungen
Es war nach 1945 keineswegs ausgemachte Sache, daß die Dreigliedrigkeit des deutschen Schulsystems erhalten bleiben sollte; die amerikanischen Besatzer mit ihrem anderen Schulwesen wollten es nicht. Bis Herbst 1948 ging das Kultusministerium davon aus, daß eine sechsjährige Grundschule eingeführt würde, die sich dann erst verzweigen sollte (627). Allerdings erhoben sich schon 1948 Gegenstimmen. Gerhard Storz forderte dazu auf, "das ... noch Bestehende" zu erhalten; die "Erneuerung der Schule" sei vor allem von den Lehrern abhängig; das "Chaos" ertrage nicht auch noch einen "tief eingreifenden Umbau" (628).
Entscheidend war, daß den Besatzern die Wiederherstellung eines geordneten Schulbetriebs und die Demokratisierung ("Umerziehung") wichtiger waren als eine schnelle Strukturreform. Seit 1949 arbeiteten die Kultusverwaltungen wieder selbständig und knüpften nun an die Traditionen der zwanziger Jahre an, auch hinsichtlich des föderativen Auseinandertretens der einzelnen Schulkonzeptionen. Allerdings normierte die 1949 geschaffene KMK die Schultypen im Düsseldorfer Abkommen von 1955 auf altbekannte Weise: altsprachlich, neusprachlich, mathematisch-naturwissenschaftlich. Die Bezeichnung "Gymnasium" für alle zum Abitur führenden Schulen wurde im Herbst 1953 in Württemberg eingeführt, was wütende Proteste der humanistischen Schulen zur Folge hatte (629). Das FEG führt den Titel "Gymnasium" in seinem Briefkopf seit 1954.
Es folgte eine Phase der Stagnation, in der sich aber manches änderte: die Aufnahme in die Höheren Schulen wurde flexibler gehandhabt (grundsätzliche Tendenz dabei: die Entscheidungen der Eltern erhielten mehr Gewicht); die stofflichen Anforderungen im Abitur wurden reduziert; Ende der fünfziger Jahre wurde das Schulgeld abgeschafft (630). Die entscheidenden Änderungen aber haben ihren Ursprung in den sechziger Jahren.
Bis dahin war es das Ziel aller Schularten innerhalb des dreigliedrigen Systems, 'Bildung', 'höhere' oder 'volkstümliche', zu vermitteln - das Humboldtsche Ideal der Persönlichkeitsbildung galt wieder in Anknüpfung an die Traditionen vor 1933. Es kam dabei in erster Linie auf die Inhalte der Bildung an, über die noch Konsens bestand. Außerdem sollte das Abitur Ausweis einer "allgemeinen Lebensreife" sein, wozu es in den zwanziger Jahren stilisiert worden war (631). Die Saarbrücker Rahmenvereinbarungen von 1959 brachten allerdings eine erste Differenzierung des alten Bildungskanons (Verringerung der Pflichtfächer; Wahlpflichtfächer; Stufenabitur); das FEG hat zu den 12 württembergischen Schulen gehört, an dem diese Neuheiten erprobt wurden.
Seit Mitte der sechziger Jahre (1965: Konstituierung des Deutschen Bildungsrats) wurde der Begriff der Bildung mehr und mehr aufgegeben zugunsten desjenigen der 'Wissenschaft'. Der überkommene Fächerkanon änderte sich (wenn auch nicht sehr), die Fächer in ihm wurden anders gewichtet, innerhalb der Fächer verbreiterte sich das Spektrum möglicher Inhalte. Mancher Ältere stellt heute mit Unbehagen fest, daß viele 'klassische' Autoren im Fach Deutsch nicht mehr einfach gelesen werden 'müssen'.
Der Anspruch der Wissenschaftschule und der 1976 allgemein eingeführten reformierten Oberstufe ist einerseits, durch mögliche Spezialisierung auf ein Fach ein Studium der entsprechenden Richtung vorzubereiten, andererseits durch die Vermittlung methodischer Fähigkeiten Studierfähigkeit zu entwickeln. Das Abitur berechtigt zum Studium; es ist kein Ausweis von "Reife".
An die Stelle des früheren kulturellen, auf den einzelnen bezogenen Bildungsbegriffs ist als neuer leitender Gesichtspunkt ein eher politischer getreten: Die Befähigung zum Leben in einer demokratischen Gesellschaft; die Wissenschaftsschule und die reformierte Oberstufe stammen aus einer Zeit, in der über notwendige"Demokratisierung" der Gesellschaft, auch über Herstellung von "Chancengleichheit" ein breiter Konsens vorhanden war.
Hier überschneidet sich der entsprechende Strukturplan des Deutschen Bildungsrats (1970) mit einer anderen Entwicklung: der Zunahme der Schülerzahl an Höheren Schulen. Die Tendenz hat schon vor dem Ersten Weltkrieg eingesetzt (632), war aber bisher immer von den Eltern ausgegangen. Neu war jetzt, daß der Staat diese Entwicklung wollte, nach der Entdeckung der "Bildungskatastrophe" (Picht 1959) einerseits sowie der Benachteiligung bestimmter Bevölkerungsgruppen im Bildungswesen andererseits - z.B. des legendären "katholischen Mädchens vom Lande". Es ging um ökonomische und gesellschaftspolitische Fragen zugleich.
Das FEG konnte hier auf eine Tradition verweisen. Schulleiter Kessler betonte bei Gelegenheit des 175jährigen Jubiläums der Schule in seiner Ansprache, die mit dem zeittypischen Titel "Verantwortung gegenüber der Gesellschaft" ausgestattet war, daß das FEG "von Anfang an die Aufgabe erfüllte, Begabungsreserven zu mobilisieren" (633). Das wird durch diese Beschreibung der Schulgeschichte bestätigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Schule von 1965 an ein "Institut zur Erlangung der Hochschulreife" für "junge Handwerker und Kaufleute" lange Jahre angegliedert.
Heute stellt sich, wie bekannt, das Problem anders. Die Abiturienten haben einen Studienplatz nicht mehr sicher, geschweige denn eine früher für selbstverständlich gehaltene gehobene berufliche Karriere. Die "Berechtigungen" sind zwar als Voraussetzung noch wichtig, aber sie garantieren nichts mehr. Bildungsabschlüsse und Berufskarrieren entkoppeln sich. Das relativiert einerseits Jugendsünden aus der Schulzeit; auf der anderen Seite setzt eine 'Refeudalisierung' ein: An die Stelle der "Berechtigungen" treten eher wieder persönliche Beziehungen oder günstige materielle Voraussetzungen.
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(5.3.) Notizen zur Frauen- und Geschlechtergeschichte am FEG
Forschen wir nach der Geschichte von Frauen und Mädchen an der Anstalt, so stoßen wir zunächst auf Männer. Da ist im 19.Jh. Chr. Frisch, der beispielhafte Vorstand der Schule und Junggeselle. Viele Jahre seines Lebens traf er sich mit Schülern und jungen Männern auf dem Turnplatz, hatte aber immerhin zwei Schwestern, gleichfalls unverheiratet. Als er seinen Garten in der Bergstraße der Schule vermachte, ließ er diesen Damen einen Platz unter einem Baum reservieren, von dem sich die Schüler fernzuhalten hatten (634). Eine andere Spur führt zu J.G.Fischer, dem Dichter. Ihm schrieb Otto v.Güntter ein "mystisches Verhältnis" zum Weibe zu (635) - und in der Tat, wer in seinem lyrischen Werk blättert, findet das Thema Liebe ausführlich bearbeitet: Es gibt da Zeugnisse scheuen Erschreckens, die an den ihm gut bekannten Mörike denken lassen, aber auch solche heftiger Inbrunst, übrigens ohne jedes Geheimnis. Sonst findet man an der Anstalt zum Thema zunächst nicht viel.
Jedoch nicht in den siebziger Jahren dieses Jahrhunderts, sondern schon im späten Kaiserreich sind Mädchen - man hält den Atem an - auf die Realanstalt gegangen, z.B. Hilde Kreutz geb.Martz, Jahrgang 1897, die Ärztin wurde (636). Das war möglich, weil Württemberg pragmatisch verfuhr und "besonders begabte" (637) Mädchen seit 1905 auf Höhere Knabenschulen gehen ließ, wenn keine entsprechende Mädchenschule vorhanden war. Natürlich waren das an der Realanstalt Einzelfälle: Die höhere Tochter wurde in der Regel mit einem Vorrat von philologischem Bildungswissen für etwa anfallende Konversation ausgerüstet, nicht aber mit Realien beladen.
Vermutlich ist es diesen einzelnen unerschrockenen Mädchen unterschiedlich gut an der Realanstalt gegangen, aber insgesamt eher schlecht. Die Vorurteile waren kräftig, die Eignung der Frau für Mathematik und Naturwissenschaft wurde bezweifelt (638). Das Verhalten der männlichen Mitschüler war nicht durchweg das feinste, wie sich an einer Abiturklasse von 1918 zeigt, in der zwei Mädchen saßen. Was die männlichen Verfasser der Abiturzeitung dieser Klasse über die beiden schrieben, gehört zu den übelsten und infamsten Flegeleien, die je Eingang in die Abiturientenzeitungen der Schule gefunden haben, und das heißt nicht wenig. In derselben Zeitung finden sich außerdem mathematisch getarnte Auslassungen auf der sexuellen Anspielungsebene ("Kurvendiskussionen"). Beides zusammen muß als Ausdruck der von Eltern und Lehrern verordneten Tabuisierung der Sexualität verstanden werden, wie sie für das Kaiserreich typisch war, aber noch lange vorhielt.
Im November 1954 kam es in einer 8.Klasse zwischen Schülern zu sexuellen Handlungen pubertären Zuschnitts. Der Vorfall zog einen außerordentlichen Lehrerkonvent nach sich (639), der mit dem einstimmig beschlossenen Ultimatum für die Pubertierenden endete. Damit auch wirklich Gerechtigkeit geschah, wurde der Vorfall in allen Einzelheiten beschrieben und protokolliert. Als der Vertrauenslehrer Dr.Vetter die umstürzlerische Erwägung anstellte, "ob nicht die (sexuelle) Aufklärung der Klasse durch einen Arzt angebracht" sei, beschied ihm der Schulleiter, daß sich "seinen Erfahrungen nach das in diesem Alter negativ" auswirke. Und er forderte die Kollegen auf, in Zukunft die geschlechtlichen Regungen der Schüler genauer zu beobachten.
Vier Jahre später hatte dabei einer Erfolg, jedoch kam es diesmal nur zu vier Stunden Rektoratsarrest, nachdem auch dieser Vorgang im Konvent ausführlich beschrieben worden war. Und wieder verhallte die Frage eines einzelnen Kollegen, ob die Schule nicht "aufklärend auf die Schüler einwirken" könne, ohne Echo.
Was sich da tat, ist natürlich nicht FEG-, sondern zeitspezifisch. Die Schule gehörte dann 1969 zu denen, die Sexualunterricht versuchsweise einführte. Dem Konvent wurde das Projekt mit Begründung ausführlich vorgestellt, es fiel dabei das Wort "Enttabuisierung". Widerrede erhob sich nicht. Die Dinge waren - wie anderes auch - 1968 in Bewegung geraten. Am 14.Februar plädierten in der damals üblichen Form der Resolution einer Massenversammlung der Stuttgarter Gesamtelternbeirat, die geschäftsführenden Schulleiter, die Vertrauenslehrer, Vertreter des Schülerparlaments - so etwas gab es damals - und Vertreter des Jugendamts "für den Aufklärungsunterricht an Schulen" (640).
Zurück in den Ersten Weltkrieg, zurück zu den Mädchen. Ein Hauch von Emanzipation durchwehte die Anfänge der Weimarer Republik. Im"Beobachter", der sozialdemokratischen Tageszeitung Stuttgarts, meldete sich eine Stimme, die bei der "Auslese" für die Oberrealschule gleiche Maßstäbe für Knaben und Mädchen verlangte (641); in der konservativen "Schwäbischen Chronik hingegen wurde empfohlen, daß Mädchen beim Eintritt in eine Oberrealschule vorsichtshalber eine Klasse wiederholen sollten, wenn sie denn das Wagnis auf sich nähmen (642). - In den zwanziger Jahren mußten Mädchen dann nicht mehr auf die FEORS, wenn sie höhere Realbildung wollten, weil entsprechende Züge an den Höheren Mädchenschulen eingerichtet wurden.
In den Unterlagen der Schule aus der Nachkriegszeit findet sich die Vokabel "Koedukation" erstmals im Protokoll eines Lehrerkonvents vom März 1969, und zwar in Verbindung mit dem Wort "Problem": Schulleiter Kessler berichtete über eine Tagung, auf der das Thema behandelt worden war. Jetzt ging alles zwar langsamer als an anderen Schulen, aber doch unglaublich schnell. Am 11.Dezember 1970 stand auf der Tagesordnung eines Konvents der Punkt: "Einführung der Koedukation am FEG." Es wurde der Gründe gedacht, die bisher dagegen gesprochen hatten: kein Handarbeitsraum, kein Gymnastikraum, unpassende sanitäre Einrichtungen - überhaupt hatte die Schule zu viele Schüler, ein Erweiterungsbau schien vonnöten. Jetzt aber eine neue Lage: Immer mehr Eltern vertrauten ihre Söhne gemischten Schulen an, nur noch ganz, ganz wenige Innenstadtgymnasien verweigerten sich der Koedukation.
Was tat nun das damalige Kollegium? Statt sich über die Aussicht auf naturwüchsige Lösung der Raumprobleme durch schwindende Schülerzahlen zu freuen, führte es einstimmig, bei fünf Enthaltungen, die Koedukation ein, wenn auch in "nicht forcierte(m), sondern organische(m) Übergang". Auf eine pädagogische Diskussion der Frage wurde, so vermerkt das Protokoll, ausdrücklich verzichtet.
Werfen wir einen Blick auf die Lehrerinnen der Schule. Die ersten durften im Ersten Weltkrieg tätig werden - als Ersatz für die im Felde stehenden Männer -, und die Schüler staunten (643), daß es so etwas gab. Die letzte dieser Damen hieß Johanna Keppler. Sie wurde ihres Dienstes am 8.Januar 1919 enthoben und kam dann, womit wieder alles seine Ordnung hatte, ans Katharinen-Stift (644).
Der Beruf der Lehrerin war zu Anfang, und das heißt: im Kaiserreich, ein Versorgungsberuf für unverheiratete Mädchen aus Bürgerfamilien. Folgerichtig wurden die Damen am Tag ihrer Eheschließung entlassen. Häufig freuten sich die Kollegen darüber, da die Kolleginnen aus den gehobenen Bevökerungsschichten ihnen Angst machten.
Das Lehrerinnenzölibat fiel nach der Novemberrevolution, dem Grundsatz nach galt nun Gleichberechtigung. Praktisch aber wurden verheiratete Beamtinnen zur Manövriermasse in schlechten Zeiten. Das zeigte sich schon während der Inflation 1923 und noch stärker in der Weltwirtschaftskrise von 1929 an. 1932 konnten verheiratete Lehrerinnen entlassen werden, wenn das Einkommen der Familie ohne ihren Beitrag gesichert erschien. Hitler machte ein Jahr später aus dieser Kann-Bestimmung ein Muß (645).
Die männlichen Philologen bezogen zu all dem standesgemäß Stellung, indem sie aus dem Vorrat ihrer historischen Einsichten schöpften: "Lehren von der Emanzipation der Frau hat es in allen Zeiten der Geschichte gegeben, wenn die Bande der Zucht und Sitte sich lockerten." Oder auch ganz unverblümt: "Wachsen kann die Zahl der Oberlehrerinnen im wesentlichen nur auf Kosten der Zahl der festangestellten männlichen Philologen" (646). Das Problem bestand im Höheren Schulwesen noch nicht lange, denn wissenschaftliche Ausbildung von Oberlehrerinnen gab es erst seit 1910; zur Universität waren Frauen in Württemberg 1904 zugelassen worden.
Die erste Lehrerin am FEG war die Studienrätin Eva Enkelmann, die 1949 als Krankheitsvertretung wirkte (647). Frau Stella Schmid, eine Volksschullehrerin mit Ergänzungsprüfung, unterrichtete von 1951 bis 52 (648) und dann riß die Reihe nicht mehr ab, sondern schwoll an. Es werden unter den männlichen Kollegen immer weniger, die das Phänomen irritiert.
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(5.4.) Schulleben: Restauration und Vordringen kommerzialisierter Medien-, Konsum- und Freizeitwelt
Wenn nicht alle Anzeichen trügen, läßt sich der bekannte Befund, daß nach dem Kriege eine "Restauration" einsetzte, für das FEG bestätigen.
Zunächst wurde den Lehrern von der Militärregierung eine Erklärung abverlangt, daß sie sich "von Geist, ... Methoden und Ton des Nationalsozialismus fernhalten" sollten; es folgten viele Einzelbestimmungen. Schulleiter Schmid, der sich als dienstältester Nichtparteigenosse um diesen Posten beworben hatte, leistete diese Erklärung bereits im Januar 1946; das Kollegium wurde geschlossen am 1.Februar 1947 um 17.00 Uhr vereidigt (649).
Die Entnazifizierung und die "Reeducation" zur Demokratie, so ist der Eindruck, haben die Lehrerschaft eher zu abwartender Solidarisierung als zu einem neuen Anfang veranlaßt. Es waren ja nur wenige im Kollegium, die vor 1933 der Demokratie etwas hatten abgewinnen können.
Vom Nationalsozialismus distanzierte man sich auf andere, eher problematische Weise. Kennzeichnend dafür ist eine an sich nebensächliche, aber sehr typische Quelle von 1949: das Vorwort des Heftes, mit dem die Schülerselbstverwaltung eingerichtet wurde, ein Kind der Besatzung. Der Verfasser zitiert Karl Jaspers mit einem Text von 1931 (Die geistige Situation der Zeit) und Ortega y Gasset und entwickelt in Berufung auf die beiden seinen Gedankengang. Die zu Beginn des Jahrhunderts eingetretene "Vermassung" lasse der "Persönlichkeit des einzelnen" kaum noch Raum, die "Hitler-Zeit" habe dies besonders dargetan. Es gehe um die Frage, ob "unsere ganze Kultur nivelliert, mechanisiert, verflacht" werden solle. Die Höhere Schule habe den Auftrag, dies zu verhindern. Die "innere Schulreform" wolle die Persönlichkeit, die sich "in eine Gemeinschaft ... freiwillig einordnet". Hier habe die Schülerselbstverwaltung ihren Ort (650).
Die Höhere Schule schloß ungefähr da an, wo sie 1933 vom Nationalsozialismus abgeholt worden war: bei der imaginären"Gemeinschaft" einerseits, bei der "Elite" andererseits.
Die Erinnerungen Horst Keils, Abitur 1957, bestätigen den Eindruck einer Restauration des (scheinbar) apolitischen Elitären: "Wir standen außerhalb des (politischen) Systems und liebten die Freiheit, aber auch die Arroganz (651)".
Die Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus fand, wenn sie nicht nach dem Vermassungsschema abgewickelt wurde, nicht statt. Im Geschichtsunterricht durfte bis Dezember 1947 - vorsichtshalber - nur bis zur Revolution 1848/49 unterrichtet werden. Nach dem Ende dieser Einschränkung wurde dann schon der Erste Weltkrieg erreicht, weit mehr aber nicht, und gern unter Aussparung der Bismarckschen Innenpolitik (652). Im Mai 1959 fragte in der braven Schülerzeitung "FEG-Feuer" ein Schüler schüchtern an, ob "das Dritte Reich und der 2.Weltkrieg" nicht gründlicher oder überhaupt durchgenommen werden könnten: "Wie sollen wir das Unglück des Dritten Reichs, in das unsere Väter hineingerutscht sind, vermeiden, wenn wir selber nicht wissen, was damals passiert ist?" (653).
Der Begriff "Nationalsozialismus" findet sich in den erhaltenen Protokollen der Fachschaft Geschichte der fünfziger Jahre nie, dafür kümmerte man sich sorgfältig um die "Hohenstaufen". Politische Themen wurden hingegen der Verlust der Ostgebiete und die DDR - das "FEG-Feuer" bezeugt dies. Das lag auch daran, daß das Kollegium nach 1945 kräftigen Zuzug aus dem Osten erhalten hatte. Auch Schulleiter Kessler, der sich für "Ostkunde" einsetzte, stammte aus Mitteldeutschland. 1968 ließ er bei allen Schülern, ohne um elterliche Zustimmung zu bitten, einen Geldbetrag einsammeln und sorgte dafür, daß die ganze Schule den Ostkunde-Film "Deutsche Heimat im Osten" in einem Kino ansah. Der Vorgang, in dem sich die beginnende Kontroverse um die "Ostpolitik" spiegelt, hatte kritische Anmerkungen in den "Stuttgarter Nachrichten" zur Folge (654). Die Vorführung eines anderen Films, die von der SMV gewünscht worden war, hatte Jahre zuvor das Lehrerkollegium verhindert: nämlich des ersten Dokumentarfilms über die KZs ("Nacht und Nebel"); es wurden "psychologische und pädagogische" Bedenken vorgebracht (655). Ein zweites Mal wurde Schulleiter Kessler in der Presse kritisiert - diesmal auf Intervention eines Vaters in der "Stuttgarter Zeitung" -, als er zum 175jährigen Jubiläum der Schule in einer Galerie 'bedeutender Ehemaliger' die Bilder zweier Weltkriegsgeneräle zeigte, was für ihn wie viele andere Angehörige seiner Generation eine Selbstverständlichkeit war. Der eine General war Sperrle (s.o.), der - wohl zum Glück für die Schule - nicht enttarnt wurde, weil dem Foto keine Hinweise auf seine "Lebensleistung" (Kessler) (656) beigegeben waren, der andere war Thumm, Sohn des 'Jungdeutschlandthumms' von 1912 (s.o.), und dieses Foto, ebenfalls unbeschriftet, zeigte den General vor leicht bewölktem Himmel mit Hakenkreuz auf der Uniform. An diesem Abzeichen hatte der Vater Anstoß genommen (657); das Kollegium, obwohl ihm schon Lehrer einer jüngeren Generation angehörten, schwieg dazu.
Bezeichnend aber ist, daß zumindest seit 1968 außerhalb der Schule solche Traditionspflege nicht mehr überall akzeptiert wurde - für Schulleiter Kessler, wie verschiedene seiner Reaktionen zeigen (658), und wohl die Mehrzahl der damaligen Lehrer ein unfaßbarer Vorgang. Sie hatten es plötzlich mit jungen Leuten zu tun, von denen nicht wenige - freilich mit geringem Risiko - der Elterngeneration das moralische Recht absprachen, sie zu erziehen. Zeugnisse aus diesen Jahren zeigen, wie tief der Bruch war, wie schnell damals positive Lehrerbilder bei manchen Schülern auseinanderbrachen (659). Es konnte auch nicht sein, daß die Konflikte jener Jahre das FEG aussparten. Wahrscheinlich lag es an einigen jüngeren Lehrern, die das Universitätsmilieu der mittleren sechziger Jahre kannten, daß die Auseinandersetzungen nicht weiter eskalierten, als sie das taten ; in einem der konfliktträchtigsten Momente, als ein "Teach in" bevorstand, befolgte Schulleiter Kessler den Rat des jungen Vertrauenslehrers Nollenberger, die Schule wegen einer Personalversammlung einfach zu schließen (660).
Im Rückblick auf die Zeit seither wird nun zweierlei erkennbar:
■ | 1. 1968 und in den Jahren danach fand auch am FEG der letzte Generationenkonflikt statt, der so gut wie keinen Lebensbereich aussparte, der polarisierte, zu Entscheidungen zwang und in dessen Zentrum politische Themen standen. Viele Reden und Aufsätze zum Jubiläum 1971 sind ohne Kenntnis dieses Hintergrunds nicht verständlich (661). - Einzig zu Anfang der achtziger Jahre - Nachrüstungsdebatte! - hat es nochmals eine spürbare Politisierung von Schülern am FEG gegeben. Der Konflikt verlief aber nicht an den Generationengrenzen. |
■ | 2. Die 68er-Bewergung muß - ohne daß sie damit genügend erklärt wäre - als Teil eines übergreifenden Vorgangs verstanden werden, der sich bis in die Gegenwart immer mehr ausgeweitet hat: Die Entstehung und Durchsetzung einer ins Schulleben hineinreichenden subkulturellen 'Jugendwelt' - inzwischen verschiedener 'Milieus' mit zunächst (und immer wieder) konfrontativen Phasen. |
In geradezu klassischer Weise kommt ein einst besonders wichtiger Aspekt der Sache in K.U.Böttchers Bericht vom 175jährigen Jubiläum der Schule zum Ausdruck. Der Berichterstatter erschien auf dem"Ball der Jugend" und stellte fest: "... (Es) herrschte der Beat. Musik wurde Mauer, an der man sich den Kopf hatte einrennen können ... Der Gesellschaftsabend" von Eltern und Lehrern hingegen "hatte ganz anderen Zuschnitt. Hier bewegte man sich in kultivierter Atmosphäre" (662).
Dieser Aspekt der Zweiteilung der 'Kultur' - K.U.Böttcher fand übrigens einen Durchgang in der Mauer und "fügte" sich (663) - ist heute zweifellos kein besonderes Thema mehr. Aber fest etabliert hat sich die Besonderheit der Lebenswelt von gleichaltrigen Jugendlichen, innerhalb der sich dann einzelne Generationen formieren oder von Medien und Soziologie ausgerufen werden: 'no future', 'Schickimicki', 'postalternative Fungeneration' (jetzt gerade) usw.; das Angebot ist unübersichtlich (664). Diese gesamte Entwicklung hat - wie schon die 68er-Bewegung - die seit Ende der fünfziger Jahre sich erweiternden materiellen Möglichkeiten von Jugendlichen und den damit verbundenen Zuwachs an Freiheit auf vielen Lebensgebieten zur Voraussetzung; parallel dazu haben sich die Normen und Erziehungsvorstellungen sowie die Lebensstile in einer sich 'individualisierenden' Gesellschaft ausdifferenziert. Das derzeitige Ergebnis ist, daß 'Erziehung' mehr als je zuvor in den verschiedenen Gleichaltrigengruppen stattfindet, daß sie, auch diese Entwicklung beginnt Ende der fünfziger Jahre (Fernsehen!), sehr stark durch Kommerz und Medien vermittelt wird. Schule und Elternhaus, die ihrerseits diesem Differenzierungsprozeß unterworfen sind, auch wenn sie das nicht immer wahrhaben wollen, treten als Erziehungsinstanzen zurück. Nichts beweist dies besser als der verbreitete Ruf nach 'mehr' Erziehung entweder durch Eltern oder Schule - ein freilich, wie wir wissen, nicht gerade neues Postulat. Das Hauptproblem heutiger Jugendlicher - und hier sind am wenigsten noch die Schüler der Gymnasien betroffen - besteht darin, zu einem frühen Zeitpunkt Orientierungskompetenz gegenüber einem vielgestaltigen Angebot zeigen zu müssen - das ist die Kehrseite - und auch Gewinn! - einer im Vergleich zu früher sehr weitgehenden Freiheit in der persönlichen Lebensgestaltung schon in jungen Jahren.